Prof. Dipl.-Ing. Edgar Baeger
PlŠdoyer fŸr einen weltanschaulich neutralen Staat
Festvortrag anlŠ§lich des 80jŠhrigen Bestehens des Bundes fŸr
Geistesfreiheft (bfg) Augsburg, am 7. Juni 1991
Aus: MIZ 3/91
Seit sich Menschen, die keiner Kirche oder Sekte angehšren, in
InteressenverbŠnden zusammenfinden, steht die Forderung nach einem
weltanschaulich neutralen Staatswesen an erster Stelle. In der Forderung nach
einer Trennung von Staat und Kirchen stimmen VerbŠnde wie der Bund fŸr
Geistesfreiheit, der Deutsche Freidenkerverband, die Freireligišsen
Gemeinden, die Humanistische Union, der Internationale
Bund der Konfessionslosen und Atheisten und viele andere
Gruppierungen všllig Ÿberein, so unterschiedlich ihre Positionen in anderen
Bereichen auch sein mšgen.
Eigentlich sollte es um dieses Anliegen gut bestellt sein, denn
diese Position entspricht grundlegenden Forderungen unserer Verfassung. Das
hšchste deutsche Gericht hat diese Ansicht in einem wegweisenden Urteil
bekrŠftigt, in dem es festgestellt hat, das Grundgesetz erlege dem Staat als
Heimstatt aller StaatsbŸrger die Verpflichtung zu weltanschaulich-religišser
NeutralitŠt auf; es verwehre die EinfŸhrung staatskirchlicher Rechtsformen und
untersage die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse.[BVerfG - Entsch. Bd. 19,
206 (216)]. Doch desungeachtet finden wir in der BRD eine
Verfassungswirklichkeit vor, die diesen Vorstellungen unseres Grundgesetzes
nicht im mindesten entspricht. In vielfŠltiger Weise verstš§t unser Staat gegen
die Verpflichtung zu weltanschaulich-religišser NeutralitŠt:
* durch
Konfessionalisierung des šffentlichen Schulwesens, d.h.
... Glaubensunterweisungen (genannt Religionsunterricht) in der
šffentlichen Schule auf Kosten des Steuerzahlers und die Absicherung dieses
VerkŸndigungsunterrichts sogar im Grundgesetz (als einziges Schulfach);
... Ideologisierung der Schule durch Verpflichtung auf christliche
Wertvorstellungen in vielen Landesverfassungen;
... Versuche, mit Schulgebeten die Kinder kirchenfreier Eltern zu
isolieren und zu drangsalieren;
... EinfŸhrung einer Quasiverpflichtung zum Besuch eines
Religionsunterrichts, bei deren Verweigerung als Ersatz ein sog.
Ethikunterricht [Unterricht Ÿber die Grundlagen der Sittlichkeit (Bayern)]
zwangsweise besucht werden mu§, womit diese SchŸler und ihre Eltern auch noch
als moralisch-sittlich nachhilfebedŸrftig diffamiert werden;
* durch
Verleihung eines besonderen Rechtsstatus an bestimmte Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften (KdšR) und (daraus abgeleitet) durch den Einzug
der MitgliedsbeitrŠge der christlichen Kirchen durch die staatliche
Finanzverwaltung (Kirchensteuer) und (damit wiederum verbunden) durch
Mi§achtung eines fundamentalen Datenschutzanliegens, nŠmlich des Rechts seine
religišse †berzeugung nicht offenbaren zu mŸssen;
* durch
einen dynamisch fortgeschriebenen Finanztransfer grš§ten Stils an die
christlichen Kirchen (sog. Staatsleistungen aufgrund der SŠkularisierung von
Kirchenvermšgen im Jahre 1803) - derzeit ca. 1,3 Mrd. DM/Jahr, verbunden mit
der jahrzehntelangen Mi§achtung des Ablšsegebots der Verfassung (140 GG + 138
(1) WRV);
* durch
Konfessionalisierung des Sozialwesens in weiten Teilen Deutschlands unter
všlliger Mi§achtung der AnsprŸche kirchenfreier Menschen
... damit verbunden durch Quasi-Berufsverbote fŸr kirchenfreie
Menschen auf dem Gebiet der Sozialberufe in den betreffenden Gebieten der BRD
... und durch die arbeitsrechtliche Benachteiligung aller bei den
Kirchen beschŠftigten Menschen (mehr als 700.000 Arbeitnehmer) als
ArbeitskrŠfte minderen Rechts in diesen sog. "Tendenzbetrieben";
* durch
die staatliche Finanzierung religišser Handlungen und Riten in Form der sog.
MilitŠrseelsorge, Anstaltsseelsorge, Telefonseelsorge (das
verfassungsrechtliche Gebot, den Religions-Gesellschaften den Zugang zu diesen
staatlichen Einrichtungen zu ermšglichen, wurde zur staatlichen Finanzierung
der sog. Seelsorge umgefŠlscht.);
* durch
staatlich finanzierte Ausbildung von Geistlichen und Religionslehrern in
"Theologischen FakultŠten" der UniversitŠten
... und damit verbunden durch die Mi§achtung der nach Art. 5 (3)
GG gewŠhrleisteten Freiheit von Forschung und Lehre (Lehrentzugsverfahren
Herrmann, KŸng, Neumann, BatholomŠus, Schweitzer, Ranke-Heinemann);
* durch
sakrale Symbole in šffentlichen GebŠuden (Schulen, Gerichte, AmtsbŸros) und
durch religišse Handlungen in staatlichen Institutionen (Einweihungen,
Antrittsgottesdienste, Abschlu§gottesdienste);
* durch
Anerkennung einer bŸrgerlich-rechtlichen Wirkung innerkirchlicher Handlungen
(Taufe begrŸndet Mitgliedschaft, Kirchenaustritt erfordert staatlichen Akt);
* durch
religišs motivierte Strafgesetzgebung (¤218 StGB, ¤166 StGB);
* durch
Eidesformeln mit religišser Beteuerung als Standardversion;
* durch
vielfŠltige Privilegien, wie etwa GebŸhrenbefreiung der Kirchen bei Notaren und
Gerichten, Wehrdienstbefreiung von Theologiestudenten und Geistlichen;
* durch
eigene Sendungen (neuerdings zunehmend "getarnt", also fŸr nicht
Sachkundige nicht mehr als kirchliche Propaganda zu erkennen) in den
šffentlich-rechtlichen Sendeanstalten und Vertretung in deren Aufsichtsgremien.
In der Tageszeitung, die ich an meinem Wohnort lese, (Ÿbrigens zu
75% im Besitz der Dišzese Rottenburg), fand ich vor drei Wochen einen Bericht
Ÿber den Besuch eines katholischen Bischofs aus Afrika, der seinen deutschen
GlaubensbrŸdern Alarmierendes aus seinem Heimatland Sambia zu berichten wu§te:
Der Islam, so verkŸndete der schwarzafrikanische Oberhirte, sei im gesamten
sŸdafrikanischen Raum sehr aktiv. †berall entstŸnden Moscheen und Koranschulen.
Zwar befinde sich der Islam derzeit noch in einer
Minderheitenposition und fordere Toleranz, doch sei es mit der religišsen
Duldsamkeit vorbei, sobald die Moslems in einem Land das †bergewicht bekŠmen.
Leider verga§ der fromme Mann an dieser Stelle etwas hinzuzufŸgen, nŠmlich: Der
Islam verfolgt in dieser Hinsicht exakt die gleiche Politik wie seine eigene
Kirche in ihrer fast zweitausendjŠhrigen Kirchengeschichte.
Man mu§ es deutlich sagen: der zuvor beschriebene
Staats-Kirchen-Filz der BRD ist ja nur der Restbestand des Staatskirchentums.
Es ist gewi§ nicht das Verdienst der christlichen Kirchen, da§ heute jemand,
der dieses System anprangert, nicht mehr fŸr Leib und Leben fŸrchten mu§. Es
waren die Ideen der bŸrgerlichen AufklŠrung, die in jahrhundertelangem Ringen
der organisierten Religion die schlimmsten Rei§zŠhne gezogen haben. So schreibt
Franz KlŸber, frŸher Professor fŸr katholische Soziallehre an der UniversitŠt
Regensburg: "Ihre Grundrechte und Freiheiten und die durch das Evangelium
geforderte WŸrde der Person hat die abendlŠndische Menschheit nur im Ringen
gegen den erbitterten Widerstand der katholischen Kirche erreicht." [4]
Wenn man etwa an den Versuch erinnert, wŠhrend des zweiten
Weltkrieges in Kroatien einen katholischen Gottesstaat zu errichten, der
hunderttausende von Menschen anderen Glaubens das Leben kostete, dann ist es
noch keineswegs gesichert, da§ derartige Gefahren durch fundamentalistische
Religionsgesellschaften in Europa tatsŠchlich der Vergangenheit angehšren. Warum
ist das so? Weshalb tendieren gerade die Buchreligionen (Christentum, Islam,
Judentum, u.Š.) derart zur Intoleranz? Warum sind wŠhrend der gesamten
Geschichte der Menschheit immer wieder die organisierten Religionen eine Quelle
der Aggression, eine der Hauptursachen fŸr Kriege, Verfolgung und Terror bis in
die Gegenwart (Nordirland, naher Osten, Indien, Sri Lanka)? Weshalb ist es so
schwer vorstellbar; da§ eine grš§ere Religionsgesellschaft beispielsweise
* auf
die religišse Indoktrination von Kindern mit Hilfe des staatlichen Schulsystems
verzichtet,
* bestimmte
rigorose Verhaltensnormen zwar von ihren Mitgliedern fordert, aber darauf
verzichtet, diese mit Hilfe der Staatsgewalt allen StaatsbŸrgern abzuverlangen,
* darauf
verzichtet, sich Privilegien vom Staate zusichern zu lassen und zugleich andere
Weltanschauungen hiervon auszuschliessen,
* darauf
verzichtet, Menschen mit anderen Weltanschauungen zu diffamieren (wie es
beispielsweise der kath. Kardinal Meisner jŸngst wieder praktizierte) um nur
einige Punkte zu nennen.
Es ist ein Gebot der Fairness, darauf hinzuweisen, da§ Forderungen
nach einem toleranten, dialogfŠhigen Verhalten ihrer Religionsgesellschaften
und der Verzicht auf Sonderrechte und Privilegien auch immer wieder von
kritischen, wohlmeinenden Christen gegenŸber ihren Kirchen erhoben wurden.
Jedoch diese Stimmen verhallten wirkungslos, wie Rufe in der WŸste. Warum?
Kšnnte es sein, da§ gutwillige Reformer wie Horst Hermann, Franz KlŸber und
viele andere deshalb scheiterten, weil sie quasi eine Art Naturgesetz gegen
sich hatten? Wenn es so ist, da§ das Streben nach Vormachtstellung im Staat das
Kennzeichen vieler gro§er organisierter Religionen ist und wenn diese
Erscheinung durchgŠngig in der Geschichte beobachtet werden kann, dann ist die
Vermutung naheliegend, da§ hier grundlegende Mechanismen wirksam sein mŸssen.
Es mag zunŠchst Ÿberraschen, da§ hierauf eine Antwort versucht
werden soll, die auf Arbeiten von Naturwissenschaftlern Bezug nimmt. Die
Anregung hierzu erhielt ich durch die LektŸre eines Aufsatzes von Douglas R.
Hofstadter; einem amerikanischen Physiker und Mathematiker, Professor fŸr
Cognitive Science, in einem Artikel in der Zeitschrift "Spektrum der
Wissenschaft" (der deutschsprachigen Ausgabe des "Scientific
American") mit dem Titel "Metamagikum - virusartige SŠtze und
andere selbst-replizierende Gebilde". [3] In diesem
Aufsatz untersuchte Hofstadter die Verwandtschaft zwischen bestimmten, auf ihre
Weiterverbreitung "bedachten", Ideen und Viren, jenen kleinen
Partikeln, die in der Lage sind, in eine Wirtszelle einzudringen und diese dazu
zu bringen, in einer komplizierten Folge von ReplikationsvorgŠngen Kopien des
Virus herzustellen. Diese kopierten Viren kšnnen dann ihrerseits wieder
Wirtszellen befallen und diese in gleicher Weise zum Replizieren ihrer selbst
"versklaven". Der Gedanke, da§ zwischen diesen VorgŠngen in der
belebten Natur und PhŠnomenen im Bereich der Kultur ZusammenhŠnge bestehen
kšnnten, wurde schon zuvor von Naturwissenschaftlern geŠu§ert.
Einer von ihnen ist Jacques Monod, Molekularbiologe und
NobelpreistrŠger fŸr Medizin, der in seinem 1970 erschienenen Buch "Zufall
und Notwendigkeit" [6] folgendes
ausfŸhrt:
"FŸr einen Biologen ist es verlockend, die Evolution der
Ideen mit der Evolution in der belebten Natur zu vergleichen. Wenn auch das
Reich des Abstrakten viel weiter noch Ÿber die belebte Natur hinausgeht, als
diese die unbelebte Welt Ÿberschreitet, so haben doch die Ideen einige der
Eigenschaften von Organismen behalten. Wie diese wollen sie ihre Struktur
fortpflanzen und vermehren, wie diese kšnnen sie ihren Inhalt vermischen,
rekombinieren und wieder abtrennen, wie diese haben sie schlie§lich eine
Evolution, und in dieser Evolution spielt die Selektion ohne Zweifel eine gro§e
Rolle. ...Der Wirkungsgrad einer Idee hŠngt von der VerhaltensŠnderung ab, die
sie beim einzelnen oder bei der Gruppe herbeifŸhrt, wenn diese die Idee
Ÿbernehmen. Wenn eine Idee von einer Gruppe von Menschen angenommen wird und
ihr mehr Zusammenhalt, mehr Zielstrebigkeit und mehr Selbstvertrauen
vermittelt, dann verleiht sie ihr damit auch eine gesteigerte Expansionskraft,
wodurch dann andererseits die Verbreitung der Idee gesichert ist. Der
Verbreitungsgrad der Idee steht in keiner notwendigen Beziehung zu dem Anteil
objektiver Wahrheit, den sie enthalten vermag. Die verstŠrkte Macht, die fŸr
eine Gesellschaft in einer religišsen Ideologie liegt, hŠngt nicht eigentlich
von deren Struktur ab, sondern davon, da§ diese Struktur angenommen worden ist,
da§ sie sich durchsetzt. Deshalb lŠ§t sich auch das Durchsetzungsvermšgen einer
solchen Idee nur schwer von ihrer Wirkungskraft trennen." (S.145)
Jacques Monod spricht hier von einer religišsen Ideologie. Ich
entsinne mich noch deutlich, wie eine evangelische Studentenpastorin sich
verletzt fŸhlte, als ich bei einem GesprŠch darauf aufmerksam machte, ihre
TŠtigkeit diene der Aufrechterhaltung und Verbreitung einer Ideologie. Die Dame
hatte jedoch zu wenig oder das Falsche gelesen. Ein Blick in ein
Fremdwšrterbuch [Der Duden - Fremdwšrterbuch, Mannheim
1982] hŠtte sie darŸber aufgeklŠrt, da§ Ideologie dort definiert wird als
1.) an eine soziale Gruppe, eine Kultur o.Š. gebundenes System von
Weltanschauungen, Grundeinstellungen und Wertungen;
2.) weltanschauliche Konzeption, in der Ideen der Erreichung
politischer und wirtschaftlicher Ziele dienen.
Da§ Definition 1 auf die organisierte Religion exakt zutrifft
steht au§er Frage, da§ auch noch die Definition 2 anwendbar ist, zeigen fast
zweitausend Jahre christlicher Kirchengeschichte oder die derzeit zu
beobachtende Tendenz zur Schaffung islamischer Staaten.
FŸr die Verbreitung von Ideen ist also nach Jacques Monod der
Inhalt dieser Ideen nicht entscheidend, sondern nur die Frage, ob sie bei den
Individuen, die von ihr "befallen" werden, Mechanismen auslšst, die
zu einer wirkungsvollen Weiterverbreitung fŸhren. Solche Mechanismen kšnnen
selbstverstŠndlich Herrschaftsmechanismen sein, also Instrumente aus der
gesamten Skala vom Staatsterror bis zur Indoktrination Ÿber ein Bildungssystem.
Entscheidend ist lediglich, inwieweit diese Mechanismen der Weiterverbreitung
der Idee fšrderlich sind.
Die Verwandtschaft zwischen der biologischen Evolution und der
Weiterverbreitung von Ideen nimmt Hofstadter in seinem Artikel zum Anla§, dem
Reich der belebten Natur - der "BiosphŠre" - das Reich der Ideen -
die "IdeosphŠre" gegenŸberzustellen. So wie in der BiosphŠre Gene
Ÿber die bekannten Mechanismen (beispielsweise Ÿber Eier und Spermien) von
einem Kšrper eines Lebewesens zum Kšrper des neuen Lebewesens weitergegeben
werden, ebenso werden in der IdeosphŠre sog. "Meme" durch Imitation
im weitesten Sinne von Gehirn zu Gehirn weitergereicht. Der Begriff
"Mem" stammt von dem Evolutionsbiologen Richard Dawkins, Professor
fŸr Biologie in Oxford. Dawkins verwendet diesen Begriff, um die ParallelitŠt
zwischen der Replikation von Genen und der verblŸffend Šhnlichen Replikation
von Ideen deutlich zu machen. [1] Sowie ein Virus eine Wirtszelle
befŠllt und diese dazu bringt, Kopien des Virus herzustellen, so veranlassen
selbstreplizierende Ideen (Meme) das Gehirn, als Vehikel fŸr die
Weiterverbreitung der Idee zu dienen. Gene, die Eigenschaften erzeugen, die dem
damit ausgestatteten Lebewesen eine hšhere †berlebenswahrscheinlichkeit
verschaffen, werden sich erfolgreicher durchsetzen, als andere Gene aus der
gro§en Zahl der Gene fŸr alle mšglichen Merkmale - von Dawkins als
"Genpool" bezeichnet. Bestimmte Kombinationen von Genen -
beispielsweise fŸr "Pflanzenfresser" oder "Fleischfresser"
- erweisen sich in der BiosphŠre als besonders erfolgreich. Ideen aus der Menge
aller mšglichen Ideen, von Dawkins als Mempool bezeichnet, erweisen sich in
bestimmten Kombinationen ebenfalls in der IdeosphŠre als Ÿberaus erfolgreich.
Dawkins nennt beispielsweise die Kombination aus Gottes-Idee und Drohung mit
ewigem Hšllenfeuer eine derartige Kombination, die die †berlebenschancen im
Mempool wesentlich verstŠrkt, weil jedes dieser Meme zum †berleben des jeweils
anderen beitrage.
Die logischen Grundlagen selbstreplizierender Ideen stellt
Hofstadter an einigen Beispielen dar. Zu den einfachsten viralen SŠtzen gehšrt
der Satz "Schreib mich ab!". Gesetzt den Fall, der Leser dieses
Satzes gehorcht der im Satz enthaltenen Aufforderung, dann hat der
Selbstreplikationsproze§ begonnen. Nun krankt dieses simple Beispiel daran, da§
allzu offenkundig kein Motiv ersichtlich ist, der Aufforderung zum Abschreiben
des Satzes Folge zu leisten.
Daher enthalten raffiniertere Vertreter selbstreplizierender SŠtze
entweder Versprechungen oder Drohungen. "Wenn du mich abschreibst, erfŸlle
ich dir drei WŸnsche!" oder "Schreibe mich ab oder ich verwŸnsche
dich!" sind Beispiele hierfŸr. Dabei ist es všllig unerheblich, ob die in
viralen SŠtzen enthaltenen Versprechungen oder Drohungen Ÿberhaupt realisierbar
wŠren. Was zŠhlt ist einzig und allein, ob ihre †berlebensfŠhigkeit im
"Mempool" dadurch wŠchst. Hofstadter erwŠhnt als bekanntes Beispiel
hierfŸr die Tricks, die bei sogenannten "Kettenbriefen" angewendet
werden. Virale Ideen haben immer zwei grundlegende Bestandteile:
1. Ein
Glaubenssystem mit einem gewissen Grad an innerer Logik.
2. Ein
System von SŠtzen, die mit Versprechungen, Drohungen und Appellen die
Weiterverbreitung des Gesamtsystems zur Pflicht machen.
Die hier geschilderten Mechanismen sind nicht amŸsante,
intellektuelle Spielereien von Naturwissenschaftlern und Mathematikern, wie
sich leicht anhand der AusfŸhrungen eines Religionswissenschaftlers zeigen
lŠ§t. GŸnter Kehrer, Professor fŸr Religionssoziologie an der UniversitŠt
TŸbingen, schreibt in seinem Buch "Organisierte Religion" [5] folgendes:
"Trotz der gelŠufigen Metapher von der Macht des Buches ist es
realistisch, da§ eine Idee - auch in Buchform gebracht - ein Nichts ist, sofern
nicht Menschen sich dieser Idee bemŠchtigen und sie zum Motiv ihres Handelns
machen. Vermutlich werden unablŠssig Ideen produziert - schon lŠngst
dagewesene, manchmal vielleicht auch neue -, die selbst, wenn sie ausgesprochen
werden, wieder verschwinden, weil sie keinen TrŠger gefunden haben, der sie in
seine Obhut genommen hat. Ideen, auch religišse, haben einen quasi parasitŠren
Charakter. Sie kšnnen nicht alleine leben." (S.15)
Und an anderer Stelle schreibt Kehrer:
"Vereinfacht - und gewi§ nicht dem SelbstverstŠndnis
religišser Individuen entsprechend - kann man formulieren, da§ das Streben nach
Selbsterhaltung fŸr religišse Systeme bedeutet, da§ es Individuen finden mu§,
die bereit sind, Investitionen fŸr die Religion vorzunehmen." (S.119)
Dieses kšnnte ebensogut Dawkins oder Monod geschrieben haben. Nur
trifft die von Kehrer verwendete Bezeichnung ,parasitŠrer Charakter' nicht so
prŠzise zu, wie die Bezeichnung ,viraler Charakter', denn ein Parasit besorgt
seine Vermehrung noch selbst, wŠhrend ein Virus den befallenen Wirt zur
Replikation des Virus veranla§t.
Hat man den viralen Charakter religišser und politischer
Ideologien verstanden, dann ist es auch verstŠndlich, da§ diese Systeme zu
ihrer VervielfŠltigung immer dieselben, weil erfolgreichen, Methoden einsetzen.
Diese Methoden sind eben diejenigen, die zu AusprŠgungen, wie etwa
Staats-Kirchen-Filz, Gottestaaten, Staatskirchentum u.Š. fŸhren. Diese
Erscheinungen sind alle bei Kehrer nachzulesen (S.29, S. 121) und von ihm
absolut zutreflend damit begrŸndet, da§ alle derartigen (viralen!) Ideologien
darauf bedacht sind, "sich so unabhŠngig wie mšglich von der sozialen
Umwelt zu machen." Ich lehne mich diesbezŸglich an die AusfŸhrungen
Kehrers an, zitiere ihn jedoch nicht wšrtlich:
1. Die
Herausbildung politischer Herrschaft. Das kann geschehen durch Errichtung eines
Gottesstaates durch die religišse Hierarchie (Iran) oder durch enge Symbiose
mit den im Staat Herrschenden (Kaiser, Kšnige, FŸrsten, Adel, Diktatoren) oder
in Demokratien der neueren Zeit durch religišse Parteien (christliche Parteien,
islamische Parteien, jŸdische Parteien, ...). Das religišse Vokabular
amerikanischer PrŠsidenten und deutscher Bundeskanzler und -prŠsidenten ist
kein Zufall.
2. Aufbau
einer starken Organisation mit formalisierten Strukturen und einer
FŸhrungshierarchie. (Die Hierarchie der katholischen Kirche ist hierfŸr ein
klassisches Beispiel).
3. Durch
Sicherung wirtschaftlicher Resourcen (eigene, Gewinn erwirtschaftende,
Unternehmen; Erschlie§ung staatlicher Geldquellen).
4. Aufbau
eines eigenen Trainingsprogramms (theologische SchulungsstŠtten, Theologische
FakultŠten, kirchliche Hochschulen)
5. Sicherung
eines mšglichst weitreichenden Zugriffs auf Propagandamedien (Presse, Rundfunk,
Fernsehen, Nachrichtenagenturen).
6. Einrichtung
von Rekrutierungswegen, die mšglichst weitgehend unabhŠngig von Konkurrenz auf
religišsen MŠrkten machen, im Idealfall durch biologische WeiterfŸhrung des
religišsen Systems. Konkret bedeutet das im Idealfall bekenntnismŠ§ig
geschlossene Gesellschaften (man wird in seine Religion hineingeboren), in
jedem Fall aber religišse Indoktrination von frŸhester Kindheit an.
Die hier beschriebenen Methoden sind universell wirksam. Sie
funktionieren in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten. Ziel dieser
Bestrebungen ist es immer, Konkurrenz der Ideologien mšglichst weitgehend
auszuschalten oder zu behindern. Dennoch gibt es Zeiten in denen selbst ein
bislang dominierendes ideologisches System kippt und (zumindest fŸr einen
begrenzten Zeitraum) Ideen in Wettbewerb treten kšnnen. Dort wo evolutionŠre
Ausleseprozesse zwischen Ideen stattfinden kšnnen, ist die Frage von gro§em
Interesse, wovon es abhŠngt, ob eine Ideologie sich erfolgreich in den Kšpfen
der Menschen einnisten kann. Da§ der Wahrheitsgehalt einer Idee dabei die
geringste Rolle spielt, hat bereits Jacques Monod festgestellt.
Hier sind nun Ergebnisse Šu§erst aufschlu§reich, die aus einem
Teilgebiet der physikalischen Forschung stammen und ebenfalls interessante
Parallelen in der IdeosphŠre haben. Dieses Forschungsgebiet hei§t "Synergetik"
und kann beschrieben werden als die "Lehre vom Zusammenwirken". Die
Synergetik untersucht, wie selbstorganisierende Systeme in der Natur komplexe
Strukturen hervorbringen, ein Forschungsgebiet, bei dem wir erst am Anfang
stehen. Die Fragestellungen erstrecken sich auf PhŠnomene in der unbelebten
Natur; die Bildung von Strukturen in Lebewesen, auf kollektive Verhaltensweise
von Firmen in der Wirtschaft und auf Probleme der šffentlichen Meinungsbildung.
In all diesen FŠllen handelt es sich darum, wie aus
Einzel-"Entscheidungen" heraus komplexe Strukturen entstehen. Der
fŸhrende Wissenschaftler in Deutschland auf diesem Gebiet ist Hermann Haken,
Professor fŸr Theoretische Physik an der UniversitŠt Stuttgart.
Erfreulicherweise hat Haken Ÿber sein Forschungsgebiet ein
allgemeinverstŠndliches Buch unter dem Titel "Erfolgsgeheimnisse der
Natur" [2] veršffentlicht. In diesem Buch schildert Haken sehr anschaulich,
wie Geschehnisse in kleinen Bereichen einen Ordnungszustand entstehen lassen,
der dann um sich greift und seinerseits wieder auf kleine Strukturen
zurŸckwirkt und diese beeinflu§t, oder; wie Haken es ausdrŸckt,
"versklavt". Dieses Wechselspiel zwischen einem Ordnungsprinzip - dem
Ordner - und untergeordneten Einheiten, die durch dieses Ordnungsprinzip
versklavt werden, scheint ein grundlegendes PhŠnomen zu sein, das das Verhalten
selbstorganisierender Strukturen erklŠren kann. Aus der eindrucksvollen
Vielfalt der von Haken geschilderten Beispiele greife ich nur den Teil heraus,
in dem Haken sich mit der Frage beschŠftigt, wie šffentliche Meinung entsteht.
Der entscheidende Ansatz zum VerstŠndnis ist die, durch umfangreiches
empirisches Material gesicherte Erkenntnis, da§ Menschen durch eine
vorherrschende Meinung beeinflu§bar sind und dazu tendieren, sich dieser
anzuschlie§en. Haken zitiert u.a. die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann mit
folgenden Worten: "Seine soziale Natur veranla§t den Menschen, die
Absonderung zu fŸrchten, unter anderen Menschen geachtet und geliebt sein zu
wollen....
Nur wenn wir eine gro§e Isolationsfurcht annehmen, kšnnen wir die
enorme Leistung erklŠren, die Menschen zumindest im Kollektiv vollbringen, wenn
sie mit gro§er Treffsicherheit und ohne irgendwelche demoskopischen Hilfsmittel
jeweils sagen kšnnen, welche Meinungen zu und welche abnehmen...
Die Anspannung, die Umwelt zu beobachten, ist anscheinend das
geringere †bel, verglichen mit der Gefahr, plštzlich das Wohlwollen seiner
Mitmenschen zu verlieren, plštzlich isoliert zu sein."
Sind wir nun dazu verurteilt, die beschriebenen GesetzmŠ§igkeiten
hinzunehmen und damit zu akzeptieren, da§ bedingt einerseits durch die leichte
Beeinflu§barkeit der Menschen und andererseits durch den Virus-Charakter
erfolgreicher religišser Ideologien, in einer Gesellschaft immer eine bestimmte
religišse Ideologie dominieren wird, die ihrerseits nichts unversucht lŠ§t, um
eine Konkurrenz mit anderen Ideen zu verhindern? Ich meine nein. Obschon wir
heute beobachten kšnnen, da§ weltweit fundamentalistische
Religionsgesellschaften versuchen, Staaten unter ihre Kontrolle zu bringen und
mit den vorher eršrterten Mechanismen im Sinne der Synergetik zu versklaven,
ist die Gefahr im Prinzip beherrschbar. Es sind ja nicht nur religišse
Ideologien, die als virale Ideen ihre Selbstreplikation betreiben. Politische
Ideologien zeigen samt und sonders dieselben Merkmale. Das Elend, das
politische Ideologien fŸr Generationen von Menschen bedeutet haben, ist dem der
religišsen Ideologien durchaus ebenbŸrtig, man denke an den Nationalsozialismus
oder an den Marxismus-Leninismus. Gegen die Dominanz einer politischen
Ideologie in einem Staat hat sich als bestes Mittel immer noch die Demokratie
erwiesen. "Es macht wohl das Charakteristikum einer Demokratie aus",
schreibt Hermann Haken, "da§ sie wenigstens im Prinzip die Mšglichkeit in
sich birgt, auch die andere Seite zum Zuge kommen zu lassen. Insofern
beinhaltet eine Demokratie eine grš§ere Symmetrie als eine Diktatur, wobei
grš§ere Symmetrie hei§t, ein viel breiteres Spektrum von Meinungen und individuellen
Entfaltungsmšglichkeiten, oder, mit anderen Worten, die Demokratie vermag eine
pluralistische Gesellschaft zu garantieren." [S.174]
WŠhrend wir also im Bereich der politischen Ideen das Ideal eines
"freien politischen Marktes" durch die demokratische Staatsform zu
realisieren versuchen, nehmen wir es im Bereich der religišsen Ideologien hin,
da§ Religionsgesellschaften sich mit staatlicher Hilfe ihre Weiterverbreitung
sichern. Doch die ReprŠsentanten dieser Religionsgesellschaften sollten sich
nicht mehr allzu sicher sein.
Mit dem Zusammenschlu§ der beiden deutschen Staaten nŠhern wir uns
sehr schnell einem Zustand, bei dem die beiden privilegierten christlichen
Kirchen nur jeweils noch ein Drittel der Bevšlkerung vertreten. Die
FŸhrungskrŠfte beider Religionsgesellschaften wissen sehr wohl, da§ sie eine
riesige Zahl an Mitgliedern fŸhren, die ihren Vereinigungen nur aus reinem
Opportunismus angehšren. In dem Ma§e, in dem die Ausrichtung der Menschen durch
eine weltanschaulich geschlossene Umgebung nicht mehr greift (und diese
Situation haben wir heute schon in vielen Gro§stŠdten Deutschlands), werden sie
diese Mitglieder verlieren. Schon heute zeigt sich deutlich, da§ eine stŠndig
wachsende Zahl von Menschen sich bei existenziellen Problemen, etwa einer
Schwangerschaft oder der Frage eines humanen Todes, nicht mehr von den Lehren
einer Religionsgesellschaft versklaven lassen will. Sehr rasch kann der
Zeitpunkt kommen, ab dem Vertreter der Parteien, die nicht die
Interessenvertretung einer religišsen Ideologie auf ihre Fahnen geschrieben
haben, sich grŸndlich Ÿberlegen mŸssen, ob sie weiterhin die Privilegien von
Religionsgesellschaften politisch absichern wollen.
In einer Zeit, in der ein freier Markt fŸr Waren und ein freier
Arbeitsmarkt das Ziel europŠischer Politik sind, wird es allerhšchste Zeit,
auch einen freien Markt fŸr Religionen und Weltanschauungen zu schaffen. Die
Zeit der Reservate neigt sich dem Ende zu.
Verfolgen Sie bitte selbst die Nachrichten aus aller Welt
daraufhin, wieviel Ha§, wieviel Terror, wieviel Krieg ihre Ursache in viralen
religišsen Ideen haben. In Hinblick auf diese Erscheinungen mŸ§ten alle Staaten
dieser Welt daran interessiert sein, einen freien Wettbewerb der
Weltanschauungen als selbstverstŠndliches Grundrecht zu garantieren - nicht nur
auf dem Papier, sondern auch in ihrer Verfassungswirklichkeit.
Wer daher fŸr einen weltanschaulich neutralen Staat eintritt, der
tritt ein fŸr die Ideale der Demokratie auch in der Welt der Ideen und schafft
damit die wichtigste Voraussetzung fŸr den inneren Frieden.
Das sollte unser Ziel sein.
Quellen:
[1] Dawkins, Richard "Das egoistische Gen",
Berlin-Heidelberg-New York, 1978
[2] Haken, Herrmann "Erfolgsgeheimnisse der Natur",
Frankturt/M. 1984
[3] Hofstadter, Douglas R. "Metamagikum" in SPEKTRUM DER
WISSENSCHAFT MŠrz 1983
Neu als Buch erschienen: "Metamagicum - Fragen nach der
Essenz von Geist und Struktur", Stuttgart, 1991
[4] KlŸber, Franz "Der Umbruch des Denkens in der
katholischen Soziallehre", Kšln, 1982
[5] Kehrer, GŸnter "Organisierte Religion", Stuttgart,
1982
[6] Monod, Jacques "Zufall und Notwendigkeit", MŸnchen,
1971
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