Von
der Verhaltenstherapie zur Neuropsychotherapie?
Klaus
Grawe
Institut
fŸr Psychologie der UniversitŠt Bern
Die
VT als eigene Therapierichtung gibt es nun fast 50 Jahre. Sie hat, jeweils mit
ein bis zwei Jahrzehnten Verzšgerung, die Entwicklungen der Psychologie
mitvollzogen. Vom Behaviorismus Wolpes und Skinners ist heute nicht mehr viel
Ÿbrig. Auf breiter Ebene wurde die kognitive Wende vollzogen. Meichenbaum und
Beck stehen der heutigen VT sehr viel nŠher als Wolpe und Skinner. Die meisten von
uns erleben das als Fortschritt. Aaron Beck ist zum meistzitierten Autor der
Sozialwissenschaften avanciert. Sein Abstand zum zweiten, Sigmund Freud, wird
von Jahr zu Jahr gršsser. Aber der gršsste Wandel, der sich vollzogen hat,
lŠsst sich nicht an einem bestimmten Namen festmachen. Es ist die
stšrungsspezifische Differenzierung, die Akkumulation des Wissens und Know hows
um bestimmte Stšrungen und Probleme herum. Sie wird von Vielen als so grosser
Fortschritt empfunden, dass ein Schritt dahinter zurŸck heute undenkbar
erscheint.
Auch
aus der psychotherapeutischen Versorgung ist die VT nicht mehr fortzudenken.
Wenn irgendeine Richtung ihrer Anerkennung sicher sein kann, dann sie. Auch der
verstockteste Psychoanalytiker stellt sie nicht mehr in Frage. Das ist der VT
nicht in den Schoss gefallen. Grundlage fŸr diesen Erfolg sind die
unabweisbaren Wirksamkeitsbelege, die fŸr die kognitiv-behaviorale Behandlung
der verschiedensten psychischen Stšrungen erarbeitet wurden. Da konnte keine
andere Therapierichtung mithalten, weder quantatitativ noch qualitativ.
Nun
sind wir in einer beneidenswerten Position: Wir kšnnen wohlgefŠllig auf unser
grosses Arsenal an stšrungsspezifischen Interventionen schauen und uns im
Bewusstsein sonnen, dass niemand es besser macht als wir.
Aber
heisst das auch, dass wir selbst es nicht noch besser machen kšnnten? Sind wir
mit dem Erreichten wirklich auf der Hšhe der Zeit?
Die
Psychologie ist uns jedenfalls schon wieder einen Schritt voraus. Sie macht
gerade die nŠchste Wende durch: die neurowissenschaftliche. Wenn man von
der Vergangenheit auf die Zukunft schliesst, dann steht der Verhaltenstherapie
die nŠchste Wende unmittelbar bevor. Die kognitive Verhaltenstherapie wird sich
mit grosser Wahrscheinlichkeit zur Neuropsychotherapie entwickeln, so wie sich
die behavioristische Verhaltenstherapie zur kognitiven Verhaltenstherapie
entwickelt hat. Ich will Ihnen heute aufzeigen, warum mir diese Entwicklung
unausweichlich erscheint, warum wir sie nicht nur geschehen lassen, sondern sie
aktiv vollziehen sollten und was diese Entwicklung wahrscheinlich mit sich
bringen wird. Einiges davon wird Ÿberraschend sein.
Was
verstehe ich unter Neuropsychotherapie?
Zum
einen kann man Neuropsychotherapie methodisch verstehen, also in dem Sinne,
dass Psychotherapie sich neurowissenschaftlicher bedient.
1. Therapieerfolgsmessung:
Studie von Furmark et al.
Abb.1
2. Indikationsstellung
3. Hilfsmittel fŸr
therapeutische Interventionen
- Feststellung mit dem
Scanner, wann bestimmte Hirnareale aktiviert, d.h. bereit fŸr eine bestimmte
therapeutische Intervention sind.
Abb.2
- Aktivierung bestimmter
Hirnareale, z.B. durch Magnetstimulation oder sogar direkt durch
Elektrostimulation Ÿber Elektroden (ãHirnschrittmacherÒ), oder Beeinflussung
der Lernbereitschaft durch pharmakologischen Einfluss auf Neurotransmitter.
Aber
das sind keineswegs alle und nicht einmal die wichtigsten EinflŸsse, die von
den Neurowissenschaften auf die Psychotherapie ausgehen werden. Die wichtigsten
EinflŸsse werden nicht methodischer sondern konzeptioneller Art sein. Sie
resultieren aus der Erkenntnis, dass allen unseren psychischen VorgŠngen
spezifische neuronale Erregungsmuster zugrunde liegen. Der Hirnforscher Joseph
LeDoux hat dies prŠgnant mit dem Titel seines letzten Buches auf den Punkt
gebracht: ãSyaptic Self: How our brains become who we areÒ. Der letzte Satz des
Buches lautet: ãYou are your synapses. They are who you areÒ (2002, S. 324).
Abb.3
Wenn
es stimmt, dass ausnahmslos alles, was wir denken, wissen, glauben, hoffen,
fŸhlen, erleiden, entscheiden oder tun sich bis ins letzte Detail auf die
Strukturen unserer Neurone und Synapsen und der Prozesse, die sich zwischen
ihnen abspielen, zurŸckfŸhren lŠsst, wenn also das, was wir als seelisch bezeichnen,
sowohl in seiner Existenz als auch in seiner Beschaffenheit vollstŠndig eine
Hervorbringung neuronaler Schaltkreise ist, dann hat das fŸr das VerstŠndnis
psychischer Stšrungen und fŸr die Wirkungsweise von Psychotherapie weit
reichende Konsequenzen.
Auf
den ersten Blick kšnnte man meinen, wir Psychotherapeuten mŸssten nun den
Psychopharmakologen das Feld rŠumen. Aber bei nŠherem Hinsehen ergibt sich aus
den Erkenntnissen der Neurowissenschaften etwas ganz anderes, nŠmlich eine
enorme Bedeutung der Psychotherapie. Das Gehirn entwickelt und verŠndert sich
durch Expression des genetischen Potentials durch die Lebenserfahrungen, die
das Individuum in der Interaktion mit seiner Umwelt macht. Das Gehirn
kommt nicht ohne die Erfahrungen aus, die ihm Ÿber seine Sinne vermittelt
werden. Es ist spezialisiert auf die Verarbeitung von Sinneserfahrungen.
Neurotransmitter werden in allererster Linie als Reaktion auf Sinneserfahrungen
ausgeschŸttet und die neuronalen Strukturen entwickeln sich als Ergebnis dieser
Erfahrungen. Wenn es schlechte Erfahrungen sind, haben sie schlechte
Auswirkungen. Davor kšnnen medikamentšs modifizierte Neurotransmitter nicht
schŸtzen. Die Erfahrungen, die ein Mensch macht, und welche Bedeutung sie fŸr
ihn haben, hŠngen wesentlich davon ab, was ihn antreibt und was er tut. Die
meisten Erfahrungen werden nicht einfach passiv erlitten, auch diejenigen
nicht, die zu psychischen Stšrungen fŸhren und die sie aufrechterhalten.
Menschen sind von ihrem ersten bis zu ihrem letzten Atemzug motiviert, nicht
nur annŠhernd, sondern auch vermeidend. Das gilt uneingeschrŠnkt auch fŸr
Menschen mit psychischen Stšrungen. Sie werden immer, auch wenn sie noch so gut
pharmakologisch behandelt werden, eine Anleitung und UnterstŸtzung dafŸr
brauchen, dass sie sich andere, nŠmlich mehr positive und weniger schŠdliche
Erfahrungen herbeifŸhren als bisher. Erst durch konkrete positivere
Lebenserfahrungen kommt es zu sich selbst aufrechterhaltenden neuen, gesŸnderen
Strukturen und AblŠufen im Gehirn. Es wird, auch bei starker Verbesserung der
pharmakologischen Behandlungsmšglichkeiten, zur Behandlung von psychischen
Stšrungen immer eine Berufsgruppe brauchen, die sich genŸgend Zeit nimmt und
die darauf spezialisiert ist, im Einzelfall herauszufinden, welche Art von
Erfahrungen der betreffende Mensch machen mŸsste, dass es ihm besser geht, und
die ihn darin anleitet und unterstŸtzt, solche Erfahrungen wirklich zu machen.
Psychotherapie wird also durch die Hirnforschung keineswegs ŸberflŸssig. Im
Gegenteil, ihre Notwendigkeit ergibt sich unmittelbar aus einer
neurowissenschaftlichen Sichtweise psychischer Stšrungen. Sie wird deshalb auch
von denen, die ihr bisher skeptisch gegenŸberstanden, zunehmend als notwendig
und wichtig anerkannt. Das gilt vor allem fŸr die Hirnforscher selbst.
NeuroplastizitŠt ist nicht nur ein Modewort. Der Begriff bringt eine fŸr die
Psychotherapie ganz zentrale Erkenntnis zum Ausdruck: Man kann das Gehirn, auch
das eines erwachsenen Menschen, durch gezielte psychologische EinflŸsse in ganz
erheblichem Masse verŠndern. Die Bedeutung der Neurowissenschaften fŸr die
Psychotherapie lŠsst sich in folgender Weise auf den Punkt bringen:
Wenn
allen psychischen Prozessen neuronale VorgŠnge zugrunde liegen, dann liegen
verŠnderten psychischen Prozessen verŠnderte neuronale VorgŠnge zugrunde. Wir
kšnnen als nachgewiesen ansehen, dass psychische Prozesse durch Psychotherapie
wirksam und dauerhaft verŠndert werden kšnnen. Daraus ergibt sich, dass
Psychotherapie dauerhaft neuronale Prozesse und Strukturen verŠndern kann.
Psychotherapie wirkt, wenn sie wirkt, darŸber, dass sie das Gehirn verŠndert.
Wenn sie das Gehirn nicht verŠndert, ist sie auch nicht wirksam. Oder, in
LeDouxs Worten: ÒPsychotherapy is fundamentally a learning process for its
patients, and as such is a way to rewire the brain. In this sense,
psychotherapy ultimately uses biological mechanisms to treat mental illnessÒ
(LeDoux, 2002, S. 299).
Nach
meiner †berzeugung sind die Verhaltenstherapeuten in besonderem Masse
prŠdestiniert, sich diese Erkenntnisse zu eigen zu machen. FŸr sie ist es
besonders leicht, sich als Spezialisten zur VerŠnderung neuronaler Strukturen
durch gezielte HerbeifŸhrung bestimmter Lebenserfahrungen verstehen. Letztlich
geht es bei jeder Psychotherapie um VerŠnderungen neuronaler
Erregungsbereitschaften, die in verschiedenen GedŠchtnissystemen gespeichert
sind. Je mehr wir Ÿber die Funktionsweise der verschiedenen GedŠchtnissysteme
wissen, um so gezielter und wirksamer kšnnen wir die neuronalen
Erregungsbereitschaften, die problematischem Erleben und Verhalten zugrunde
liegen, verŠndern. Die Verhaltenstherapeuten haben sich schon immer in
besonderer Weise mit den Gesetzen des Lernens, also mit VerŠnderungen des
GedŠchtnisses beschŠftigt
Wir
wissen heute viel mehr Ÿber die verschiedenen GedŠchtnisformen und die mit
ihnen verbundenen verschiedene Arten des Lernens im weitesten Sinne als noch
vor ein bis zwei Jahrzehnten. Den Begriff des impliziten GedŠchtnisses gab es
vor zwanzig Jahren noch gar nicht. Heute ist klar, dass die meisten psychischen
VorgŠnge im impliziten Funktionsmodus, also ausserhalb des Bewusstseins,
ablaufen. Das gilt insbesondere auch fŸr die Grundlagen psychischer Stšrungen.
Weil implizite GedŠchtnisinhalte nicht erinnerbar sind, kšnnen Patienten Ÿber
die wirklichen Grundlagen ihrer Stšrungen nur in sehr beschrŠnktem Umfang
valide Auskunft geben. Ich erinnere mich noch gut, wie wir in den AnfŠngen der
VT in unseren Explorationen immer nach den lebensgeschichtlichen Ereignissen
gesucht haben, in denen die €ngste der Patienten ursprŸnglich konditioniert
worden waren. Diese BemŸhungen sind aus heutiger neurowissenschaftlicher
Perspektive unglaublich naiv gewesen. Heute wissen wir viel mehr darŸber, wie
sich psychische Stšrungen entwickeln. Aber dieses Wissen ist noch recht jung
und die VT steht noch davor, daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Diese Konsequenzen werden weit reichend sein und das Bild der VT nachhaltig
verŠndern
Ich
werde jetzt zunŠchst ausfŸhrlicher darauf eingehen, was wir inzwischen Ÿber die
Genese psychischer Stšrungen und ihre Grundlagen im Gehirn wissen. Danach werde
ich aufzuzeigen versuchen, wie sich dieses Wissen auf unsere Therapieplanung
und auf die konkrete TherapiedurchfŸhrung auswirken kšnnte.
Ich
werde hier in meinem mŸndlichen Vortrag nicht jede Aussage, die ich mache, mit
den Untersuchungen und Literaturstellen belegen, auf die ich sie grŸnde.
Stattdessen weise ich an dieser Stelle darauf hin, dass alle Aussagen, die ich
nachfolgend mache, empirisch sehr gut fundiert sind. Sie kšnnen die dazu
vorliegende Forschung in etwa zwei bis drei Monaten nachlesen in meinem Buch
Neuropsychotherapie. Es befindet sich gegenwŠrtig im Hogrefe Verlag im Druck
und wird etwa Ende Mai in Buchhandlungen erhŠltlich sein.
Abb.
4
1.
Was sagt uns die neurowissenschaftliche Forschung darŸber, wie psychische
Stšrungen entstehen?
Schon
ehe ein Mensch zur Welt kommt, sind die ersten Weichen dafŸr gestellt, ob er
spŠter in seinem Leben einmal psychische Stšrungen entwickeln wird. Die einen
Menschen kommen mit einer Tendenz zu negativen Emotionen und zur leichten
Aktivierbarkeit des Vermeidungssystems zur Welt (Tellegen et al., 1988). Daran
sind mehrere Gene beteiligt. Die StŠrke dieser angeborenen Tendenz hŠngt davon
ab, wie viel von diesen Genen man mitbekommen hat (Baker et al., 1992). Eines
dieser Gene ist das von Lesch et al. (1996) identifizierte
Serotonin-Transportergen. Wer hier das weniger effiziente ãkurzeÒ HTT-Allel
ererbt hat, bei dem kommt es wahrscheinlich zu einer geringeren Expression
dieses Gens und in der Folge zu einer geringeren serotonergen Funktion (Bennett
et al., 1998). Serotonin hat eine ausgleichende, beruhigende Wirkung. Ein
SŠugling mit einem kurzen Allel des Serotonin-Transportergens ist daher viel
schwerer zu beruhigen. Er stellt hšhere Anforderungen an seine
Betreuungspersonen.
Die
Eltern des SŠuglings stehen ebenfalls vor der Geburt schon fest. Sie bringen
Merkmale mit, die sie zu mehr oder weniger guten Bindungspersonen machen. Wer
selber eine unsicher gebundene Mutter hatte, entwickelt mit grosser
Wahrscheinlichkeit ebenfalls einen unsicheren Bindungsstil und gibt diesen
seinen eigenen Kindern weiter (Main, Kaplan und Cassidy, 1985; Ricks, 1985).
Eine unsicher gebundene Mutter zu haben, ist fŸr ein Kind ein ebenso
schwerwiegendes Risiko, wie die Tendenz zu einem Vermeidungstemperament ererbt
zu haben. Ein zweites starkes Risiko fŸr das Kind von Elternseite her sind
psychische Stšrungen der Eltern, insbesondere schwere Depressionen (Gaensbauer
et al., 1984; Radke Yarrow et al., 1985, Zahn Waxler et al., 1984).
Wenn
beide Risiken, ein ererbtes Vermeidungstemperament und eine Mutter, die es aus
dem einen oder anderen Grund schwer hat, dem Kind sichere Bindungserfahrungen
zu ermšglichen, zusammenkommen, sind die Weichen fŸr die weitere Entwicklung in
eine ungŸnstige Richtung gestellt. Weil seine Erregung nicht durch die
Interaktion mit der Mutter herunterreguliert wird, erlebt das Kind nur selten
Entspanntheit, Ausgeglichenheit, Zufriedenheit und Geborgenheit. Stattdessen
befindet es sich oft auf einem hohen negativen Erregungsniveau. Es versucht mit
den ihm zur VerfŸgung stehenden Mitteln, am meisten mit Schreien, Kontrolle zu
erlangen und sichere NŠhe herzustellen, ist damit aber nur selten erfolgreich.
Es macht fast permanent Inkongruenzerfahrungen im Hinblick auf sein
BindungsbedŸrfnis, sein KontrollbedŸrfnis und im Hinblick auf das BedŸrfnis
nach Lustgewinn und Unlustvermeidung. Die Mutter gerŠt ihrerseits in
einen ungŸnstigen negativ emotionalen Zustand, weil auch sie dauernd
Inkongruenzerfahrungen macht. Sie fŸhlt sich Ÿberfordert, zweifelt an sich als
Mutter, wird manchmal auch wŸtend auf ihr sie so frustrierendes Kind, das doch
eigentlich etwas Schšnes fŸr sie werden sollte. Auf beiden Seiten kommt es zu
negativen Emotionen, die sich gegenseitig hochschaukeln.
WŠhrenddessen
ist das Kind unentwegt am Lernen. Es macht Lebenserfahrungen, die tiefe Spuren
in seinem impliziten GedŠchtnis hinterlassen. Es lernt aber nicht, was es
eigentlich wŠhrend dieser Zeit lernen sollte, nŠmlich die Erwartung, dass
zuverlŠssig jemand fŸr es da ist, der erkennt, was es gerade braucht; dass es
NŠhe haben kann, wenn es sich nach NŠhe sehnt; dass es Einfluss auf seine
Umgebung ausŸben kann, und zwar so, dass es bekommt, wessen es bedŸrftig ist;
dass es allmŠhlich in ersten AnsŠtzen lernt, seine eigenen Emotionen selbst zu
regulieren. Die interaktive Regulation der Emotionen und BedŸrfniszustŠnde in
der Bindungsbeziehung ist die Grundlage fŸr das Einspielen intrapersonaler neurophysiologischer
Regelkreise (Hofer, 1984, 1987), in denen die autonome Erregung mit ihren
verschiedenen neurophysiologischen Parametern durch negative RŸckkopplung in
einem fŸr den Organismus zutrŠglichen Bereich gehalten wird. Eine schlechte
interaktive Regulation der Emotionen in der Bindungsbeziehung wird zur
Grundlage einer spŠteren Tendenz zur intrapsychischen Dysregulation. Eine
Dysregulation autonomer Erregung, d.h. das Fehlen gut etablierter negativer
RŸckkopplungskreise ist ein hervorstechendes Merkmal aller Angststšrungen.
Diese Grundlage wird in den allerersten Lebensmonaten und Lebensjahren auf der
Basis der genetischen Voraussetzungen gelegt.
Bei
der Kombination ungŸnstiger Anlagen mit einer schlechten Bindungsbeziehung
lernt das Kind also Vieles von dem nicht, was spŠter eine gute psychische
Gesundheit ausmacht. Stattdessen finden ganz andere Bahnungen statt. Neuronale
Erregungsmuster, die immer wieder aktiviert werden, werden besonders gut
gebahnt. In diesem Fall ist es die Bereitschaft zu negativen Emotionen.. Das
Kind wird sensitiviert fŸr negative Emotionen. Es braucht immer weniger, um sie
auszulšsen. Durch die dauernden Bahnungen entstehen immer Ÿbertragungsbereitere
Synapsen. Die mit negativen Emotionen befassten Hirnregionen entwickeln sich
besonders gut. Das sind in erster Linie bestimmte Teile der Amygdala und der
ventromediale und dorsolaterale Teil des rechten prŠfrontalen Cortex. Im Alter
von zehn Monten hat sich aus dieser Anlage und diesen Lebenserfahrungen bereits
eine dauerhafte neuronale Struktur herausgebildet, aufgrund derer man
voraussagen kann, wie ein Kind auf belastende Situationen wie kurze Trennungen
von der Mutter reagieren wird (Davidson und Fox, 1989). Diese Struktur bleibt
lŠngerfristig stabil. Sie besteht immer noch mit 36 Monaten und ermšglicht in
diesem Alter die Voraussage gehemmten Verhaltens (Davidson, 1993). Das
Behavioral Inhibition System (Gray, 1982) kann bei diesen Kindern praktisch
lebenslang besonders leicht aktiviert werden. Es hat bis ins Erwachsenenalter
hohe StabilitŠt (Costa und McCrae, 1988).
Neben
der Sensitisierung im Sinne der immer leichteren Auslšsbarkeit negativer
Emotionen finden fortwŠhrend Konditionierungen statt, d.h. negative Emotionen
kšnnen durch immer mehr Reize ausgelšst werden. Auch dies fšrdert, dass das
Kind immer šfter in einen negativ-emotionalen Zustand gerŠt.
Es
werden aber in dieser Zeit nicht nur Bereitschaften zu negativen Emotionen
gebahnt, sondern begleitend dazu entwickeln sich die ersten Grundlagen fŸr die
Motivationalen Schemata.
Abb.
5
Was
ein Kind, wie es zuvor geschildert wurde, wŠhrend dieser Zeit erlebt, ist sehr
oft mit starken Inkonsistenzspannungen verbunden. Sie sind die Grundlage fŸr
Vermeidungslernen. Das Kind wird versuchen, die negativen ZustŠnde zu vermeiden
und zu beenden und dafŸr irgendwelche Mechanismen herausbilden, die durch
negative VerstŠrkung gebahnt werden. Die sich entwickelnden Vermeidungsziele
haben eine hohe ãmotivationale SalienzÒ im Sinne von Berridge und Robinson
(1998). Ihre Aktivierung ist von einer DopaminausschŸttung begleitet, die zur
besonders guten Bahnung all dessen fŸhrt, was die negativen Emotionen und
Inkonsistenzspannungen reduziert (Rada, Mark und Hoebel, 1998). Die
Vermeidungsziele erhalten ihre auf bestimmte Situationen bezogenen Mittel. Es
kommt zur Ausbildung von Vermeidungsschemata. Mit der Herausbildung
Motivationaler Schemata trŠgt das Kind allmŠhlich immer mehr selbst zu den
Interaktionen mit der Umgebung bei. In dem Ausmass, in dem es
Vermeidungschemata entwickelt, ist seine psychische AktivitŠt dann nicht
konfliktfrei auf AnnŠherung ausgerichtet und das beeintrŠchtigt die
Befriedigung seiner BedŸrfnisse.
In
den ersten Lebensmonaten und Lebensjahren entwickeln sich nicht nur die
neuronalen Strukturen fŸr negative Emotionen und Vermeidungsschemata, sondern
auch grundlegende Regulationsprozesse im neurophysiologischen System.
Erfahrungen unkontrollierbarer Inkongruenz sind regelmŠssig von der
AusschŸttung von Stresshormonen begleitet. Normalerweise spielen sich sehr frŸh
in der Entwicklung negative RŸckkopplungsmechanismen ein, welche die
AusschŸttung von Stresshormonen drosseln, wenn sie einen zu hohen Level
erreichen. Das Gehirn schŸtzt sich mit dieser negativen RŸckkopplung vor den
SchŠdigungen, die es durch einen dauerhaft zu hohen Cortisolspiegel erfŠhrt. Zu
diesen SchŠdigungen gehšrt insbesondere eine Schrumpfung des Hippocampus, die
seine FunktionsfŠhigkeit beeintrŠchtigt. Neben der Bildung expliziter
GedŠchtnisinhalte ist seine wichtigste Funktion die Verortung allen Geschehens
in Raum und Zeit. Ohne eine gut funktionierende Verortung emotionaler
Reaktionen in Raum und Zeit treten sie nicht nur auf in solchen Situationen, in
denen sie angemessen sind, sondern es kommt immer wieder zu Ÿberschiessenden
emotionalen Reaktionen und Stressreaktionen auch in Situationen, die objektiv
nicht gefŠhrlich sind, wie es etwa bei Angststšrungen der Fall ist.
Bei
andauernder unkontrollierbarer Inkongruenz kommt es also zusŠtzlich zu den
anderen bereits aufgefŸhrten negativen Effekten zu einer Sensitisierung fŸr
Stress, die lebenslang bestehen bleibt. Heim (2001) hat bei erwachsenen Frauen,
die als Kinder missbraucht worden waren, eine immer noch um das Sechsfache
erhšhte Stressreaktionen auf eine mittlere soziale Belastung im Vergleich zu
Frauen ohne Missbrauchserfahrungen gefunden. Bezeichnenderweise hatten viele
dieser Frauen eine Depression entwickelt. Der geschrumpfte Hipopcampus, den wir
bei Depressiven regelmŠssig vorfinden, gibt Zeugnis von dieser Vorgeschichte
der Depression.
Die
Entwicklung muss aber nicht zwangslŠufig in eine ungŸnstige Richtung gehen,
wenn ein Kind anlagemŠssig ein Vermeidungstemperament mit auf die Welt bringt.
Wenn ein solches Kind GlŸck hat, trifft es auf eine besonders feinfŸhlige,
gelassene und kompetente Mutter, die sich durch seine StšranfŠlligkeit und
Tendenz zu negativen Emotionen nicht irritieren lŠsst, sich zuverlŠssig
liebevoll dem Kind zuwendet und ihm so trotz seiner schlechten Voraussetzungen
ganz Ÿberwiegend positive Wahrnehmungen im Hinblick auf sein Bindungs- und
KontrollbedŸrfnis ermšglicht. Suomi (1987,1991) hat mit eindrucksvollen
Untersuchungen an Rhesusaffen gezeigt, dass sich solche Kinder prŠchtig
entwickeln kšnnen und spŠter eher noch besser dastehen als Kinder mit besseren Erbanlagen,
die von einer durchschnittlichen Mutter grossgezogen werden. Auch wenn man ein
kurzes Allel des Serotonintransportergens ererbt hat, kann es zur Expression
der serotonergen Funktion kommen. Sie ist nur erschwert, nicht unmšglich. Das
genetische Handicap kann mehr als ausgeglichen werden durch eine gŸnstige
Umwelt. Wenn es durch die besonders fŸrsorgliche Bindungsperson Ÿber lŠngere
Zeit zu positiven Bindungs- und Kontrollerfahrungen kommt, entwickeln sich
positive neuronale Strukturen und Regulationsmechanismen, die sich dann selbst
aufrechterhalten. Das genetisch angedrohte Schicksal kann also durch positive
Erfahrungen in der frŸhen Kindheit zum Guten gewendet werden. Das Kind
entwickelt eine gute Stresstoleranz und Emotionsregulation und bleibt
lebenslang weit unempfindlicher gegenŸber Belastungen, als es bei seinen
Erbanlagen mit einer weniger fŸrsorglichen Mutter geworden wŠre. Ausserdem
werden bei ihm die AnnŠherungsschemata klar die Vermeidungschemata dominieren,
so dass es im Verlauf des spŠteren Lebens weniger leicht zu erhšhter
motivationaler Inkonsistenz kommt. Es ist damit weit weniger gefŠhrdet, spŠter
eine psychische Stšrung zu entwickeln.
Neurowissenschaftliche
Forschung und Bindungsforschung lassen keinen Zweifel daran, dass die Grundlagen
fŸr psychische Stšrungen bereits in der allerfrŸhesten Kindheit gelegt werden,
in einem Lebensabschnitt, an den sich kein Mensch spŠter erinnern kann. Diese
Grundlagen sind niedergelegt in impliziten GedŠchtnissystemen und prinzipiell
nicht erinnerbar, auch nicht nach vielen Jahren auf der Couch und auch nicht in
Hypnose. Sie sind nie so kodiert worden, dass sie im expliziten Funktionsmodus
verarbeitet werden kšnnten. An die Grundlegung der eigenen Persšnlichkeit kann
sich kein Mensch erinnern.
Es
ist dieses implizite Selbst, das letztlich unser Erleben und Verhalten
bestimmt. Auf die Art und Weise, in der es das tut, haben wir prinzipiell
keinen introspektiven Zugriff. Subjektiv sind die meisten von uns der Meinung,
dass ihr bewusstes Ich bestimmt, was sie tun. Das gehšrt zu den unser
KontrollbedŸrfnis befriedigenden positiven Illusionen. Psychische Stšrungen
werden nicht als vom bewussten Ich bestimmt erlebt, sondern als von ihm
erlitten. Sie sind aber ein Teil von uns selbst, nŠmlich unseres impliziten
Selbst, auch wenn sie vom bewussten Ich heftig abgelehnt werden. Sie sind eine
aktuelle Hervorbringung unseres Gehirns.Es sind wir selbst, die sie
unfreiwillig hervorbringen. Ihre Grundlagen entziehen sich dem introspektiven
Zugang, aber was wir bewusst Ÿber uns denken, erfasst ohnehin nur einen kleinen
Teil unseres impliziten Selbst.
Psychische
Stšrungen entstehen aus dem, wie wir sind. Sie sind ein integraler Teil von uns
selbst, auch wenn wir noch so sehr unter ihnen leiden. Sie gehšren zu uns wie
unser Lebenslauf. Ihre Grundlagen reichen zurŸck ganz an seinen Anfang. Sie
waren schon von Anfang an ein Teil von uns. In dem Moment, wo eine psychische
Stšrung aktuell entsteht, ist dieser Teil gerade besonders aktiv.
Die
Erfahrungen der frŸhen Kindheit brechen nicht plštzlich ab, sondern gehen in
der Regel kontinuierlich fort. LŠngsschnittuntersuchungen von Main, Kaplan und
Cassidy (1985), Sroufe, Carlson und Shulman (1993) und von Grossmann und
Grossmann (1991) haben gezeigt, dass unsicher gebundene Kinder ihre frŸh
erworbenen Handicaps in alle nachfolgenden Altersabschnitte weitertragen. Sie
haben ein geringeres Selbstvertrauen und geringere
Selbstwirksamkeitserwartungen, ein schlechteres SelbstwertgefŸhl, eine
schlechtere Resilienz (Robustheit) bei Belastungen. Ganz besonders nachteilig
unterscheiden sie sich von sicher gebundenen Gleichaltrigen in ihrem
zwischenmenschlichen Beziehungsverhalten und der QualitŠt ihrer Beziehungen mit
Peers. Sie werden von Peers und Lehrern als weniger sozial orientiert, als
weniger beziehungsfŠhig, empathisch und beliebt eingeschŠtzt als sicher
gebundene Kinder und Jugendliche. Sie kšnnen ihre Impulse, WŸnsche und GefŸhle
schlechter zum Ausdruck bringen, insbesondere auch negative GefŸhle.
In
diesen Ergebnissen kommt eine grosse Tragik zum Ausdruck. WŠhrend diese Kinder
anfangs durch ungŸnstige Lebensbedingungen und/oder eine ungŸnstige genetische
Mitgift objektiv benachteiligt waren, sind sie es nun inzwischen selbst, die
die ungŸnstigen Erfahrungen der Kleinkindzeit perpetuieren und in andere
Lebensbereiche wie Schule und Peerbeziehungen hineintragen. Grundlage dafŸr
sind die inzwischen entstandenen Motivationalen Schemata. Ihre
Vermeidungsschemata sind stŠrker entwickelt als bei Kindern, die zuvor sichere
Bindungserfahrungen gemacht haben.
Die
frŸhkindlichen Lebenserfahrungen bestimmen also Ÿber die Motivationalen
Schemata, die sich im Kleinkindalter entwickeln, in hohem Masse die
Erfahrungen, die die betreffenden Kinder in den nachfolgenden Lebensabschnitten
machen. Bei Kindern in etwas weiter fortgeschrittenem Alter kommen noch
Verletzungen des SelbstwertbedŸrfnisses als weitere Inkongruenzquellen hinzu.
Bei der FŸlle von negativen Erfahrungen, die Kinder mit einem ungŸnstigen
Entwicklungsverlauf in ihren ersten zehn bis fŸnfzehn Lebensjahren machen, ist
es nicht erstaunlich, dass viele von ihnen schon im Kindes- und
Jugendlichenalter psychische Stšrungen entwickeln.
Psychische
Stšrungen entstehen nach dem hier aufgezeigten Entwicklungsverlauf nicht aus heiterem
Himmel. Sie entstehen aus einer hochbelasteten psychischen Konstellation mit
einer Vorgeschichte, die sich Schritt fŸr Schritt bis vor die Geburt
zurŸckverfolgen lŠsst. Verletzungen des Bindungs- und KontrollbedŸrfnisses,
spŠter auch des SelbstwertbedŸrfnisses spielen in diesem ungŸnstigen
Entwicklungsprozess eine entscheidende Rolle. Nach einer Metaanalyse von
Dozier, Stovall und Albus haben (1999) haben fast 90% psychisch gestšrter
Patienten irgendeine Form von unsicherem Bindungsstil, wobei der Typ des
unsicheren Bindungsstils sich teilweise nach Stšrungen unterscheidet. Von 528
von Schauenburg und Strauss (2002) untersuchten stationŠren
Psychotherapiepatienten hatten Ÿber 90% einen unsicheren Bindungsstil.
Wir
wissen nach dem zuvor Gesagten, auf welchen verletzenden Erfahrungen ein
unsicherer Bindungsstil beruht und was er fŸr die weitere Entwicklung bedeutet.
Fast alle Patienten mit schweren psychischen Stšrungen haben eine Vorgeschichte
von Verletzungen ihres Bindungs- und KontrollbedŸrfnisses in ihrer frŸhen
Kindheit, wie es in einem unsichern Bindungsstil zum Ausdruck kommt. Ihr
Problem lŠsst sich deshalb nicht auf die zuletzt entwickelte Stšrung
reduzieren. Sie ist nur ein letztes Glied in einer langen Kette
verletzender Erfahrungen, die schliesslich zu so hoher Inkonsistenz gefŸhrt
haben, dass ein qualitativ neues Mittel zu ihrer Reduktion erforderlich wurde.
FŸr die Patienten selbst ist es auch klar, dass die psychopathologische Stšrung
im engeren Sinn nur einen Teil ihrer behandlungsbedŸftigen Pobleme ausmacht.
Nur 9% aller Patienten geben die Besserung ihrer Stšrung als einziges
Therapieziel an. Drei von vier Patienten geben Probleme zwischenmenschlicher
Natur als eines ihrer drei wichtigsten Probleme an (Grosse Holtforth und Grawe,
2002). Das entspricht der grossen Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen
als Ort von Verletzungen der GrundbedŸrfnisse.
Wie
wir gesehen haben, unterscheiden sich Menschen, die eine psychische Stšrung
entwickeln, von jenen, die keine entwickeln, schon vor Ausbruch der Stšrung in
vielfŠltiger Weise. Sie neigen (im Durchschnitt) stŠrker zu negativen
Emotionen; sie kšnnen, wenn einmal negative Emotionen entstanden sind, diese
schlechter wieder herunterregulieren; sie reagieren mit Ÿberschiessenden
Stressreaktionen schon auf mittlere Belastungen und die Stressreaktionen halten
lange an. Ihr autonomes Nervensystem ist sehr oft Ÿbererregt. All dies hat sich
von klein auf bei ihnen ihnen eingespielt. Es haben sich entsprechende
neuronale Schaltkreise gebildet. Ihre Amygdala spricht auf alles, was irgendwie
bedrohlich sein kšnnte, ausserordentlich leicht und stark an und bringt diese
Schaltkreise in Gang, ohne dass dafŸr das Bewusstsein beansprucht wird.
Die
schlechte Emotionsregulation und geringe Stresstoleranz geht mit schlechtem
Coping und wenig adaptiven Konsistenzsicherungsmechanismen einher. Es besteht
bei ihnen eine erhšhte Gefahr, dass es immer wieder zu sehr starken
Inkonsistenzspannungen kommt, auch schon unter Bedingungen, die fŸr andere
Menschen noch gut zu bewŠltigen wŠren.
Es
sind vor allem Situationen erhšhter Inkonsistenz, in denen sich neue neuronale
Erregungsmuster herausbilden. Die hohe Inkonsistenzspannung hŠlt ein hohes
VerstŠrkungspotential bereit, das diejenigen neuronalen Erregungsmuster differentiell
verstŠrken wird, die zu einer Abnahme der Inkonsistenzspannung fŸhren.
Menschen
mit einer Vorgeschichte von vielen negativen Bindungs-, Kontroll- und
Selbstwerterfahrungen bringen fŸr die adaptive BewŠltigung solcher kritischen
Inkonsistenzsituationen schlechte Voraussetzungen mit. Bei ihnen sind in dieser
Situation akut erhšhter Inkonsistenzspannung die Erregungsbereitschaften zu
Ÿberschiessenden negativen Emotionen und Stressreaktionen aktiviert, denn die
Situation beeinhaltet eine starke, bisher nicht kontrollierbare Inkongruenz im
Bezug auf wichtige Motivationale Ziele. In dieser Situation wird alles negativ
verstŠrkt werden, was dem Betreffenden irgendeine Art von Kontrollerfahrung
ermšglicht, denn das wŸrde die Inkonsistenzspannung etwas reduzieren.
Es
kšnnten einem in einer solchen Situation unertrŠglicher Inkonsistenzspannung
z.B. ÒverrŸckteÒ Gedanken durch den Kopf schiessen wie dem eigenen Kind die
Augen auszustechen, sich am TŸrgriff mit einer tšdlichen Kankheit zu infizieren
oder den Gashahn offengelassen zu haben. Horowitz (1975) hat in empirischen
Untersuchungen gezeigt, dass sich solche aufdringlichen Gedanken vor allem
unter Stress und bei starken negativen Emotionen einstellen. Auch normalen
Menschen schiessen manchmal solche verŸckten Gedanken durch den Kopf, aber sie
sind flŸchtig und der Betreffende ergreift keine Gegenmassnahmen. In einer
solchen Situation starker Inkonsistenzspannung, in der negative Emotionen
aktiviert sind, fŸr die man keinen Grund erkennt, passt ein solcher Gedanke
aber genau zu den negativen Emotionen. Der Betreffende erlebt sie als tiefe
Unruhe. Es drŠngt ihn, etwas gegen die grosse Gefahr zu tun und das kann
er ja auch. Er kann den Gashahn immer wieder kontrollieren, um ganz sicher sein
zu kšnnen, dass von ihm keine Gefahr droht. Er kann die TŸrklinke reinigen oder
vermeiden, sie anzufassen, und sich grŸndlich waschen, um sicher zu gehen, dass
er sich nicht ansteckt. Er kann Schere und Messer wegschliessen, um ganz sicher
zu gehen, dass sich seine aggressiven Impulse nie in die Tat umsetzen. Er kann
sich ganz fest vornehmen, solche schlimmen Gedanken nicht hochkommen zu lassen,
sie nicht zu denken (was erst recht dazu fŸhren wird, dass er sie wieder
denkt).
All
das ermšglicht im Augenblick eine gewisse Kontrolle. Er kann wenigstens
irgendetwas tun. Die Kontrollerfahrung reduziert ein bisschen die
Inkonsistenzspannung. Das Kontrollverhalten wird dadurch negativ verstŠrkt,
d.h. besonders gut gebahnt. Es wird bei der nŠchsten starken Inkonsistenzspannung
mit erhšhter Wahrscheinlichkeit wieder auftreten, wieder verstŠrkt werden usw.
Aber nicht nur das Kontrollverhalten wird gebahnt, sondern alle in diesem
Moment aktivierten synaptischen Verbindungen. Das sind die situativen
Wahrnehmungen, die starken negativen Emotionen, die Kognitionen und das
Kontrollverhalten. Sie werden mit der Zeit zu einem neuronale Erregungsmuster
zusammengebunden, das so vorher noch nie aufgetreten ist. Es hat eine emergente
QualitŠt. Es ist etwas qualitativ Neues entstanden, nŠmlich die AnfŠnge einer
Zwangsstšrung. Wenn die Inkonsistenzspannung anhŠlt, weil sich an der
Konstellation der Motivationalen Schemata und der Lebenssituation, aus deren
Interaktion die Inkonsistenz resultiert, nichts Šndert, wird dieses neue Mittel
der kurzfristigen Inkonsistenzreduktion immer wieder auftreten und immer besser
gebahnt werden. Schliesslich kann es nicht nur durch aktuelle
Inkonsistenzspannungen aktiviert werden, sondern auch durch daran assoziierte
Situationen, Gedanken, Erinnerungen, Emotionen. Das Stšrungsmsuter ist zu einem
gut gebahnten GedŠchtnisbesitz geworden, der nun eine Eigenleben fŸhrt, auch
ohne Funktion zur Reduktion von Inkonsistenzspannungen. Solange diese anhalten,
wird das Stšrungsmuster aber auch seine Funktion zur Inkonsistenreduktion
behalten und immer dann besonders intensiv auftreten, wenn die
Inkonsistenzspannungen stark werden.
Das
Stšrungsmuster trŠgt natŸrlich immer nur kurzfristig zu einer Reduktion der
Inkonsistenzspannung bei. An ihren eigentlichen Ursachen Šndert es nichts. Im
Gegenteil: Die Stšrung wird selbst wieder als Kontrollverlust erlebt, sie ist
unangenehm und abtrŠglich fŸr das SelbstwertgefŸhl. Die Stšrung erhšht also
Ÿber den Augenblick hinaus noch die Inkonsistenz im psychischen Geschehen,
fŸhrt zu einem noch intensiveren Auftreten der Symptomatik, zu ihrer weiteren
VerstŠrkung, zur Erhšhung des lŠngerfristigen Inkonsistenzniveaus usw. Der
Teufelskreis, der viele psychische Stšrungen kennzeichnet, ist im vollen Gange.
Analog
kšnnen wir uns die Entstehung der meisten anderen Angststšrungen vorstellen.
Bei allen Angststšrungen gibt es eine wichtige Komponente, bei der das BemŸhen
um Kontrolle zentral ist. Angststšrungen haben bekanntermassen eine hohe
KomorbiditŠt. Nachdem sich eine Angststšrung entwickelt hat, entwickeln 40% der
Angstpatienten noch eine weitere Angststšrung hinzu (Schulte 2000). In diesen
FŠllen muss es einen fruchtbaren NŠhrboden fŸr die Entwicklung weiterer
Stšrungen geben. Das ist eine dauerhaft hohe Inkonsistenzspannung mit ihrem hohen
VerstŠrkungspotential fŸr alles, was ein bisschen Kontrolle ermšglicht.
KomorbiditŠt kann daher als Hinweis auf eine dauerhaft hohe
Inkonsistenzspannung bei dem betreffenden Menschen angesehen werden.
TatsŠchlich habe wir auch empirisch gefunden, dass Patienten mit hoher
KomorbiditŠt besonders hohe Inkongruenzwerte haben.
Angst
ist ein Alarmsignal. Sie tritt auf, wenn ein Organismus sich bedroht fŸhlt. Die
Depression ist ein logischer nŠchster Schritt, wenn alle BemŸhungen, die
Bedrohung dessen, was einem so wichtig ist, abzuwehren, scheitern. Wenn man
trotz verzweifelter KontrollbemŸhungen in wichtigsten BedŸrfnissen, Werten und
Zielen immer weiter verletzt wird, was bleiben einem dann noch fŸr
Reaktionsmšglichkeiten? Wie soll man sich davor schŸtzen?
Es
gibt einen Weg: Wenn man alles WŸnschen und Wollen aufgibt, wenn man gar keine
GefŸhle mehr entstehen lŠsst, wenn man alle AnsprŸche aufgibt, wenn man sich
vor der Umwelt ganz klein macht und selbst abwertet, wenn man sich in seinen
Lebensfunktionen total reduziert, indem man nicht einmal mehr isst, wenn man
alles aufgibt, was einem Spass gemacht hat, wenn man sich von allen Menschen
zurŸckzieht, wenn man alles aufgibt, was einem wichtig war, wenn man jedes
Hineinwirken in die Umgebung sein lŠsst, dann ist man recht gut vor weiteren
Verletzungen gechŸtzt. Die Depression ist aus dieser Sicht eine generalisierte
Schutzhaltung, ein auf die Spitze getriebenes Vermeiden von Verletzungen.
Das einzige, was bei einem Depressiven noch aktiv ist, ist sein Vermeidungssystem.
Die Amygdala und der ventromediale und dorsolaterale PFC, also die mit
Vermeiden und negativen Emotionen befassten Hirnteile, sind bei ihm permanent
aufs Hšchste aktiviert. Der ACC, der fŸr die Transformation von Emotionen in
klar erlebte GefŸhle und fŸr das Monitoring von Inkonsistenzquellen, die
aktives Hinwenden und Handeln erfordern, wichtig ist, ist bei ihm aber všllig
deaktiviert. Der Depressive hat aufgegeben. Er hat sich in den Schutz der
Krankenrolle zurŸckgezogen, sein AnnŠherungssystem abgeschaltet und das
Vermeidungssystem auf hšchste Stufe gestellt. So erreicht er, dass er keine
weiteren SchlŠge mehr einstecken muss. Das ist keine bewusst verfolgte
Strategie, sondern diesen VerŠnderungen im Erleben und Verhalten liegen
VerŠnderungen in den neuronalen Strukturen zugrunde, die man nicht durch
bewussten Entschluss herbeifŸhren kann. Das generalisierte Vermeidungsverhalten
wird negativ verstŠrkt durch Vermeiden von noch mehr Inkongruenz. Das sind
VorgŠnge im impliziten Funktionsmodus. Das totale Vermeiden ist die einzige
Form der Kontrolle, die dem Depressiven noch geblieben ist, und die kann ihm so
leicht keiner nehmen.
Die
Depression ist diejenige Stšrung, bei der es am klarsten ist, dass es Ÿber die
Symptombehandlung hinaus eine Inkonsistenzbehandlung braucht, wenn es zu
nachhaltigen VerŠnderungen kommen soll. Inkonsistenz ist nicht zu trennen
von den konkreten LebensvollzŸgen des betreffenden Menschen. Um dauerhafte
Behandlungserfolge zu erzielen, muss man sich mit dem Leben depressiver
Patienten befassen. Deswegen werden medikamentšse Depressionstherapien alleine
nie zu wirklich befriedigenden Therapieerfolgen fŸhren. Das LebensglŸck und
ÐunglŸck ist nicht nur eine Frage der richtigen Mischung von Neurotransmittern,
sondern eine Frage der Lebenserfahrungen, die ein Mensch macht.
Viele
psychische Stšrungen gehen mit Depressionen einher. In allen diesen FŠllen ist
das ein starker Hinweis darauf, dass bei diesem Menschen ein erhšhtes
Inkonsistenzniveau vorliegt. Das gilt aber auch fŸr KomorbiditŠt Ÿberhaupt. Wo
KomorbiditŠt herrscht, muss es Ÿber lŠngere Zeit Bedingungen fŸr die
Hervorbringung psychischer Stšrungen gegeben haben.
Inkonsistenz
schafft gewissermassen den Raum, in dem sich psychische Stšrungen entwickeln
kšnnen. Wer in seinem Leben ganz Ÿberwiegend bedŸrfnisbefriedigende Erfahrungen
gemacht und eine Struktur Motivationaler Schemata entwickelt hat, die solche
Erfahrungen immer wieder hervorbringt, hat per defintionem ein geringes
Inkongruenzniveau. In seinen psychischen AblŠufen herrscht Konsistenz vor. Sie
werden haupsŠchlich durch gut entwickelte AnnŠherungsschemata bestimmt. In
einer so beschaffenen Psyche gibt es keinen Raum fŸr psychische Stšrungen. Es
fehlen die Grundlagen fŸr ihre Entwicklung. Erst dort, wo Inkonsistenz in den
psychischen AblŠufen herrscht, wo sie also nicht von mŠchtigen, auf positive
Erfahrungen ausgerichteten Ordnungsmustern bestimmt werden, entsteht ein Raum,
der von psychischen Stšrungen eingenommen werden kann. Inkonsistenz ist daher
die wichtigste aktuelle Bedingung fŸr die Entstehung psychischer Stšrungen.
Wenn man diesen Raum eng macht, indem man die Konsistenz der psychischen
AblŠufe verbessert, gibt es keinen Platz mehr fŸr psychische Stšrungen.
Kongruenz und Konsistenz sind die natŸrlichen Gegenspieler psychischer
Stšrungen. Kongruenz und Konsistenz beziehen sich aber auf das motivierte
psychische Geschehen. Man muss sich in einer Psychotherapie mit dem motivierten
psychischen Geschehen befassen, wenn man den Raum eng machen will fŸr psychische
Stšrungen. Wenn es gelingt, die Konsistenz im psychischen Geschehen zu erhšhen,
werden die psychischen Stšrungen zurŸckgedrŠngt. Wir haben hohe negative
Korrelationen zwischen Motivationaler Inkongruenz und vielen Aspekten
psychischer Gesundheit gefunden.
Abb.5
NatŸrlich
beeintrŠchtigen auch psychische Stšrungen selbst die Konsistenz im psychischen
Geschehen. Wenn die neuronalen Grundlagen einer psychischen Stšrung einmal so
gut gebahnt sind, dass sich die Stšrung verselbstŠndigt, d.h. vom motivationalen
Geschehen abgekoppelt hat, mŸssen die neuronalen Stšrungsgrundlagen verŠndert
werden, damit Konsistenz im psychischen Geschehen herrschen kann. Zur
VerŠnderung dieser Stšrungsgrundlagen braucht es stšrungsspezifische
Interventionen. Stšrungsbehandlung und Inkonsistenzbehandlung sind keine
GegensŠtze, sondern einander zuarbeitende therapeutische Strategien. Wie ihr
optimales VerhŠltnis in einer konkreten Therapie sein sollte, kann nur im
Einzelfall bestimmt werden. Um die jeweils besten Ansatzstellen fŸr
therapeutische Interventionen zu identifizieren, muss in jedem Einzelfall
sowohl eine Stšrungsanalyse als auch eine Inkongruenzanalyse durchgefŸhrt
werden.
Abb.
6
Eine
der wichtigsten Folgerungen aus einer neurowissenschaftlichen Sicht psychischer
Stšrungen ist also die, dass man sich in der Therapie nicht nur mit den
Stšrungen selbst, sondern auch mit den neuronalen Strukturen befassen sollte,
welche die Stšrungen ermšglichen und hervorbringen. Das gilt ganz besonders
dann, wenn mehrere Stšrungen gleichzeitig vorliegen, was eher die Regel als die
Ausnahme ist. Die neuronalen Schaltkreise, die den Stšrungen unmittelbar
zugrunde liegen, sind Teil eines umfassenderen neuronalen Netzwerkes. Dieser
neuronale Kontext der Stšrung ist ihr eigentlicher NŠhrboden. Die nachhaltigste
Behandlung psychischer Stšrungen ist diejenige, die der Stšrung ihren NŠhrboden
entzieht, indem sie die Konsistenz im gesamten neuronalen/psychischen Geschehen
verbessert.
TatsŠchlich
ist empirisch eine Abnahme von Inkongruenz eng verbunden mit Verbesserungen in
allen mšglichen klinischen Parametern, wie Symptombelasung, Wohlbefinden,
interpersonalen Problemen usw.
Abb.
7
Um
Stšrungen zu reduzieren, kann man also nicht nur an den Stšrungen selbst
ansetzen, sondern auch an ihrem Umfeld, den Quellen von Motivationaler
Inkongruenz. Interventionen in diesem Umfeld kšnnen sich Ÿber eine Verringerung
des Inkongruenzniveaus auf die Stšrungssymptomatik auswirken.
Die
heutige VT mit ihren stšrungsspezifischen Manualen ist nach dieser
Betrachtungsweise zu sehr auf die Stšrungen selbst fokussiert. Das gilt nicht
nur fŸr die Therapieziele und Ansatzstellen der therapeutischen Interventionen,
sondern auch fŸr die DurchfŸhrung der Therapie und den Therapieprozess.
Auch
in der Therapie selbst macht ein Patient unentwegt Erfahrungen im Hinblick auf
seine GrundbedŸrfnisse. Wenn diese Erfahrungen positiv sind,
- wenn er sich also bei
einem feinfŸhligen, empathischen, engagiertem und kompetenten Therapeuten gut
aufgehoben fŸhlt,
- wenn er positive
Kontrollerfahrungen macht, weil das therapeutische Vorgehen transparent ist und
so gestaltet wird, dass er dabei gut mitmachen und mitbestimmen kann,
- wenn er sich nicht nur
von seinen problematischen Seiten zeigen kann, sondern immer wider auch in
seinen positiven Seiten wahrgenommen und darin ausdrŸcklich bestŠtigt sieht,
- wenn er in der Therapie
positive GefŸhle erleben, wenn er darin auch einmal ganz entspannt sein und mit
dem Therapeuten gemeinsam lachen kann,
dann
sind dies alles Erfahrungen, die seine akut aktivierten GrundbedŸrfnisse sehr
befriedigen. Je intensiver solche Erfahrungen, desto mehr wird sich sein
Inkongruenzniveau verringern mit all den weit reichenden positiven
Folgen, die wir vorhin gesehen haben. Die schnellen Verbesserungen, die am
Beginn einer Therapie oft eintreten, gehen im Wesentlichen auf solche
bedŸrfnisbefriedigenden und inkongruenzreduzierenden Erfahrungen zurŸck. Diese
kšnnen eintreten, noch ehe Ÿberhaupt gezielt an der eigentlichen Problematik
oder Symptomatik gearbeitet wurde.
Diese
EinflŸsse kšnnen keineswegs als unspezifische Wirkfaktoren angesehen werde. Sie
treten nicht einfach von selbst ein. Wenn ihr VerŠnderungspotential optimal
genutzt werden soll, mŸssen sie Ÿber die gesamte Therapiedauer hin
massgeschneidert auf die individuellen motivationalen Ziele, Mšglichkeiten und
Grenzen des Patienten so gut wie mšglich verwirklicht werden. Auf diese
anspruchsvolle Aufgabe, die man mit den Stichworten massgeschneiderte Beziehungsgestaltung
und Ressourcenaktivierung bezeichnen kšnnte, werden Verhaltenstherapeuten heute
in der Regel nicht sehr gut vorbereitet. Es handelt sich ganz Ÿberwiegend um
Arbeit im impliziten Funktionsmodus, wŠhrend inhaltlich Ÿber ganz andere Dinge
gesprochen wird.
Inhaltlich
geht es in einer Therapie natŸrlich ganz Ÿberwiegend um die Probleme des
Patienten. Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass diese nicht einfach mit
seinen Stšrungen gleichgesetzt werden kšnnen. Diese stellen in der Regel nur
eine Teilmenge der in der Therapie zu bearbeitenden Probleme dar. Bei einem
grossen Teil der Probleme handelt es sich um negative Emotionen, die zu oft, zu
intensiv und in Situationen auftreten, in denen sie als unangemessen angesehen
werden. Wie ist die therapeutische VerŠnderung negativer Emotionen aus
neurowissenschaftlicher Perspektive zu konzipieren?
Kšnnen
Angstreaktionen z.B. gelšscht werden? Das ist eine sehr interessante Frage von
grosser therapeutischer Relevanz. Die Forschung zu dieser Frage ist noch in
vollem Gange, aber es zeichnet sich eine wahrscheinliche Antwort ab: Nein,
Angstreaktionen kšnnen nicht gelšscht, sondern nur gehemmt werden. Wenn
Angstreaktionen sich im Verhalten, im subjektiven Erleben und in den
physiologischen Indikatoren von Angst verringern oder ganz verschwinden, bleibt
eine erhšhte Angstbereitschaft in der Amygdala dennoch weiterhin bestehen. Nur
die Weiterleitung der Erregung von der Amygdala zu anderen Hirnarealen wird
aktiv gehemmt.
Wenn
aber Angst nicht gelšscht, sondern gehemmt wird, stellt sich die Frage, wovon
denn die Hemmung ausgehen soll. Andere Hirnteile, die mit dem Output der
Amygdala in Verbindung stehen, mŸssen gleichzeitig mit der Aktivierung der
Amygdala Signale senden, die mit Angst mšglichst unvereinbar sind. Damit
verschiebt sich die Aufgabe des Therapeuten von der Angst zu ihrem Kontext. Es
geht bei einer Angsttherapie nicht nur darum, den Patienten mit seiner Angst zu
konfrontieren. Davon alleine geht keine positive therapeutische Wirkung
aus, auch nicht wenn die Konfrontation wiederholt wird. Die
therapeutische Wirkung geht davon aus, dass die Auslšsung der Angstreaktion in
einem betont angsthemmenden neuronalen Kontext erfolgt. Wichtigste Aufgabe des
Therapeuten ist es daher, einen solchen die Angst hemmenden Kontext
herzustellen.
Das
Behavioral Activation und das Behavioral Inhibition System im Sinne von Gray
(1982) sind zwei von einander unabhŠngige neuronale Systeme. Ihre Aktivierung
des AnnŠherungssystems begŸnstigt AnnŠherungsverhalten und positive Emotionen,
Aktivierung des Vermeidungsssytems Angst-, Schutz- und Vermeidungsreaktionen.
Wenn wir im Kino gerade einen unter die Haut gehenden Gruselfilm gesehen haben
und es gibt beim Hinausgehen plštzlich einen lauten Knall, erschrecken wir weit
mehr, als wenn wir zuvor gerade einen lustigen Film gesehen und viel gelacht
haben. Das liegt daran, dass im ersten Fall unser Vermeidungssystem
voraktiviert, man kšnnte auch sagen geprimt ist, und im zweiten Fall unser
AnnŠherungssystem. Man nennt diesen erst in den letztenJahren gut untersuchten
Vorgang Motivationales Priming. Wenn das AnnŠherungssystem geprimt ist, fallen
Angstreaktionen geringer aus, weil sie aktiv gehemmt werden. Die Hemmung geht
vom voraktivierten AnnŠherungssystem aus. Dieses Prinzip des Motivationalen
Priming kšnnen wir uns therapeutisch zunutze machen: Wenn wir eine Hemmung von
Angstreaktionen aufbauen wollen, dann mŸssen wir die Angstreaktionen in einem
mšglichst stark aktivierten AnnŠherungskontext auslšsen. Das gilt in der
Psychotherapie ganz allgemein. Fast immer, wenn wir Probleme des Patienten
behandeln, werden negative Emotionen ausgelšst. Das liegt in der Natur der
Sache. Mit der Aktivierung negativer Emotionen wird aber das Vermeidungssystem
aktiviert und das bedeutet, dass das psychische System auf Schutz, Abwehr und
Vermeidung ausgerichtet wird. Das ist fŸr die Behandlung der Probleme und den
Aufbau einer Hemmung der negativen Emotionen hšchst unwerwŸnscht. Es ist daher
fŸr eine fruchtbare Behandlung der Probleme esentiell, dass der Therapeut
kontinuierlich das AnnŠherungssystem des Patienten primt, indem er positive
Motivationale Ziele und positive Emotionen aktiviert. Wenn ihm das nicht in
ausreichendem Masse gelingt, fehlt fŸr die Hemmung negativer Emotionen und fŸr
die Generierung aktiven Problemlšsungsverhaltens auf Seiten des Patienten der
dafŸr erforderliche neuronale Kontext. Die Probleme werden dann zwar aktiviert,
aber es fehlt die entscheidende zweite Komponente fŸr das Eintreten positiver
Therapieeffekte, der auf AnnŠherung ausgerichtete neuronale Kontext.
Wir
haben in den letzten Jahren umfangreiche Prozessanalysen durchgefŸhrt und dabei
immer wieder gefunden, wie wichtig ein gutes AnnŠherungspriming ist, wenn man
in der Therapie Probleme behandelt, die mit starken negativen Emotionen
verbunden sind. Das AnnŠherungssystem kann man am besten aktivieren, indem man
den Patienten mšglichst viele positive Wahrnehmungen im Sinne seiner
GrundbedŸrfnisse machen lŠsst, also fŸr sein BindungsbedŸrfnis, sein
KontrollbedŸrfnis und sein SelbstwertbedŸrfnis. In unseren Prozessanalysen
haben wir deshalb Therapieausschnitte, in denen schmerzhafte Probleme des
Patienten behandelt wurden von trainierten Ratern daraufhin einschŠtzen lassen,
in welchen Ausmass die Patienten in dem jeweiligen Therapieabschnitt solche
bedŸrfnisbefriedigenden Erfahrungen machen konnten. Wir sind dabei
folgenedermassen vorgegangen:
Abb.
8-15
Diese
Ergebnisse stimmen sehr gut Ÿberein mit den zuvor ausgefŸhrten
neurowissenschaftlich inspirierten †berlegungen, wie negative Emotionen gehemmt
werden kšnnen. Es ergibt sich daraus die folgende Konzeption der Wirkungsweise
von Psychotherapie:
Abb.
16
Die
Behandlung von psychischen Stšrungen mit stšrungsspezifischen Massnahmen ist
nach dieser Betrachtungsweise ein wichtiger, aber nicht der wichtigste Teil
wirksamer Psychotherapie. Das HerbeifŸhren bedŸrfnisbefriedigender Erfahrungen
zur Verringerung des Inkongruenzniveaus und zur kontinuierlichen Aktivierung
des AnnŠherungssystems durch massgeschneiderte Beziehungsgestaltung und
Ressourcenaktivierung sind eher noch wichtigere Teile der therapeutischen
TŠtigkeit. Dieser Teil wirksamer Psychotherapie ist in der VT bisher nicht
genŸgend entwickelt und gepflegt worden. Es handelt sich um therapeutischen
Aufgaben, die nichts mit den Stšrungen des Patienten zu tun haben. Sie sind
stšrungsŸbergreifend. Durch die zu starke Fixierung auf die Stšrungen sind
diese wichtigen Teile therapeutischer TŠtigkeit vernachlŠssigt worden. Auch bei
der Problembearbeitung stehen bisher zu sehr die Stšrungen selbst zu einseitig
im Mittelpunkt. Es gibt, wie ich vorhin ausgefŸhrt habe, weit mehr
Ansatzstellen zur Verringerung von Inkongruenz und damit zur Induktion
allgemeinerer Besserungen als nur die Bearbeitung von psychopathologischen Stšrungen.
Wenn
die VT die Konsequenzen aus diesen durch die neurowissenschaftliche Forschung
und auch durch die psychotherapeutische Prozessforschung gut belegten
Sachverhalten zieht, wird sich ihr Bild verŠndern. Sie wird die Eigendynamik
psychischer Stšrungen weiterhin ernstnehmen und ihr mit stšrungsspezifischen
Massnahmen Rechnung tragen, aber sie wird weniger auf die Stšrungen fixiert
sein. Sie wird sich mehr mit dem motivationalen Kontext befassen, in dem
Stšrungen entstehen und in dem ihre Behandlung erfolgt. Es ist nicht so
wichtig, ob wir sie dann noch als VT oder als Neuropsychotherapie oder noch
anders bezeichnen werden. Wichtig ist, dass sie einen ganzheitlicheren
Blick auf den Menschen mit psychischen Stšrungen einnimmt. Aus neurowissenschaftlicher
Perspektive geht es in einer Psychotherapie, die nachhaltig wirken soll, nicht
nur darum, Stšrungen zu beseitigen, sondern darum, die psychische
Gesundheit zu verbessern, und psychisch gesund ist ein Mensch vor allem dann,
wenn seine GrundbedŸrfnisse gut befriedigt werden. Es macht schon einen recht
grossen Unterschied fŸr das therapeutische SelbstverstŠndnis, ob man das
primŠre Therapieziel darin sieht, Stšrungen zu beseitigen oder einem Menschen
zu helfen, seine GrundbedŸrfnisse besser zu befriedigen. Dies ist nicht nur
eine Frage von Werten, es ist auch eine Frage der Wirksamkeit. Alles deutet
darauf hin, dass Psychotherapie, diealle Mšglichkeiten nutzt, die Konsistenz im
psychischen Geschehen zu erhšhen, wirksamer ist als Therapie, die sich nur auf
die Reduktion von Stšrungen konzentriert. Wenn die VT weiter an der Spitze
wirksamer Therapien stehen will, wird sie gut daran tun, der
BedŸrfnisbefriedigung ihrer Patienten mehr Beachtung zu schenken. Dass uns
ausgerechnet die neurowissenschaftliche Forschung einmal zu dieser Erkenntnis
bringen wŸrde, ist sicher einigermassen Ÿberraschend. Aber bei nŠherem Hinsehen
doch wieder nicht: Es ist ja eigentlich nicht erstaunlich, dass die Natur des
Menschen fest in seinem Gehirn verankert ist. Je mehr man sich mit dem Gehirn
beschŠftigt, umso klarer sollten sich die spezifisch menschlichen QualitŠten
herausschŠlen und dazu gehšrt, dass erst der motivationale Aspekt dem Leben des
Menschen Sinn und Bedeutung verleiht. Man kann psychische Stšrungen nicht von dem
motivationalen Kontext lšsen, in dem sie entstehen und stehen bleiben. Das gilt
auch fŸr ihre Behandlung. Wenn die VT diese Erkenntnis einmal internalisiert
haben wird, wird sie nicht mehr dieselbe sein. Wie sie sich dann nennen wird,
sei dahingestellt, aber Neuropsychotherapie wŠre nach meiner Meinung keine
schlechte Alternative.
Abb.17
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