Selbstheilung durch Selbstbewußtsein
Dr. med. Klaus Mohr

Die Menschen in unserer industriebestimmten Epoche erwarten ihre Heilung von außen, von künstlichen äußeren Hilfsmitteln, ohne wesentliches eigenes Zutun. Bewußt oder unbewußt vergleichen sie sich da mit den Maschinen, die sie täglich bedienen. Wie außen so innen.

Es liegt mir fern, die Effektivität von Maschinen und die Wirksamkeit von eingreifenden Medikamenten zu unterschätzen - ebensowenig wie deren Nebenwirkungen. Doch sehe ich eine große Gefahr im Maschinendenken. Das Leben eines Organismus verläuft nach anderen, nämlich biologischen Prinzipien als die Konstruktion, die Reparatur und schließlich die Verschrottung eines technischen Gerätes. Die armselige Gesundheitsreformpolitik die ihr Maschinendenken auf eine Reparatur kranker Organismen nach Kosten-Nutzen-Erwägungen anwenden wollte, scheiterte kläglich mit diesem Denken und an der Mentalität der so geprägten Menschen. Sie war aus ihrer Kurzsichtigkeit heraus von vorne herein zum Scheitern verurteilt: ideell und an ihrer empfindlichsten Stelle, nämlich materiell. Diese Gesundheitspolitik mußte völlig zwangsläufig scheitern, weil sie (noch immer) den kranken Menschen allzu einseitig wie eine rationalisierbar, normierbar zu reparierende Biomaschine begreift. Darüber hinaus verstärkt gerade derartiges Denken und derartige Politik die eigentümliche Begehrlichkeit und den Egoismus des Menschen.

Die intensiven Beziehungen zwischen Bewußtsein, Heilung und Gesundheit geraten mit der modernen Gesundheitspolitik, geprägt von einem technokratischenMedizinverständnis in die verkehrte, nämlich krankmachende Richtung. Derartiges Denken und Bewußtsein, derartige Politik wirkt krankheitsfördernd. So wurde die moderne Industriegesellschaft zu einer jammerhaft-erbärmlichen Klagemauer. Die Einstellung dieser Gesellschaft (und ihre Medizin mit ihr) ist eher darauf ausgerichtet, zu jeder Lösung mindestens ein Problem zu finden, statt das eigentlich Sinnvolle zu tun: nämlich vitale Probleme naturorientiert zu lösen. So lähmt sich diese Gesellschaft selber - und macht sich dabei unnötig krank.


Das Bewußtsein in den Industriegesellschaften ist krankheitsfixiert, geprägt von Angst, Ersatzhandlungen und Verdrängung. Verängstigt und angstvoll horchen die Menschen in sich hinein, weil sie spüren, daß etwas mit ihnen nicht stimmt. Das Klopfen ihres Herzens ist ihnen so unheimlich wie das Fließen ihres Blutes im Kopf, das Stechen im Brustkorb oder das Ziehen im Rücken oder im Leib. Könnte das nicht das erste Anzeichen für einen Infarkt sein oder für den Krebs? Wird nicht in den ‘Gesundheits'-Magazinen ständig vor diesen heimlichen Symptomen gewarnt? Gewiß sind alle Symptome als Warnzeichen abwendbar gefährlicher Erkrankungen ernstzunehmen. Mein Anliegen ist keineswegs, Sie zur Verdrängung oder Bagatellisierung von wichtigen Warnsymptomen aufzufordern - im Gegenteil. Die Erfahrung aus der Praxis zeigt nämlich, daß gerade die ernstzunehmenden Zeichen in der Flut von Normal- und Bagatellerscheinungen von den Betroffenen selber nicht mehr wahrgenommen werden - und so der Katastrophe freien Lauf Iassen. Aldons Huxley hat bemerkt: Die moderne Medizin hat derartige Fortschritte gemacht, daß es praktisch keine gesunden Menschen mehr gibt. Die Entwicklung der Patienten geht diesem medizinischen Fortschritt parallel.
Selber habe ich mir aus beruflicher Erfahrung angewöhnt, gerade in denjenigen Bereichen besonders hellhörig zu sein, in denen nicht geklagt wird - und bin da sehr oft fündig geworden. Die Achtsamkeit des Arztes wird gewöhnlich erst sekundär, beim Sprechstundenbesuch oder am Krankenbett, also bei bereits eingetretener Krankheit wirksam. Soweit sie nicht aus besonderer Intuition entsteht, benötigt sie faßbare Krankheitssymptome.
Früher und deshalb besser könnte die primäre Achtsamkeit einsetzen, die nur vomBetroffenen selber ausgehen kann. Doch diese Achtsamkeit ist mehr und mehr (mit der Entfernung vom einfachen, natürlichen Leben) verstellt und deformiert. Mit diesem Text möchte ich Sie anregen, die richtige Achtsamkeit wiederzufinden bzw. zu entwickeln.

Die sinnvolle, gesundheitsorientierte Achtsamkeit wird nicht nur Ihren Vortrag bei Ihrer Ärztin/Ihrem Arzt produktiver machen. Diese Achtsamkeit dient vor allem der Förderung/Erhaltung/Wiedergewinnung von Gesundheit im Vorfeld von Krankheit: also der Selbstheilung.
Nun berühren wir mit dem Stichwort Selbstheilung einen sensiblen, äußerst individuellen und objektiven, daher ideologisch heftig umkämpften Bereich.
Viele medizinische Würdenträger lehnen gewöhnlich schon die bloße Möglichkeit von Selbstheilung barsch bis polemisch ab: Heilung sei - wenn überhaupt - allein Aufgabe des Arztes und mit Operation oder (chemischem) Medikament zu erreichen, allenfalls noch mit ärztlicher Belehrung der Patienten. Selbstheilung sei nichts als mystisches Wunschdenken von Laien, die bloß nicht operiert oder medikamentiert werden wollten.

Persönlich denke ich da anders, gerade aus unmittelbarer beruflicher und eigener Erfahrung. Selbstverständlich behaupte ich nicht, daß aus Gedankenkraft ein fehlgestellter Knochenbruch wieder gerade wird, oder ein manifester Tumor ohne operative Entfernung verschwindet oder eine Cyste oder nur ein banales Hühnerauge sich einfach auflöst. Hier und - bei vielen anderen Manifestationen bleibt es ärztliche Aufgabe, manifeste Fehlentwicklungen zu korrigieren.

Mir geht es hier um die Vor- und Frühstadien, um die primäre Entwicklung von Krankheit. Und um die eigentliche Heilungsphase, auch um die Bewältigung. Dafürsind die Kräfte aus dem Selbst entscheidend wichtig. Wer diese Kräfte ignoriert oder gar unterdrückt, wird wohl vorübergehende Entfernung von Krankheit, aber keine Heilung erreichen können. Die wichtigsten Heilungsimpulse kommen aus dem Selbst, wie etwa an dem einfachen Beispiel eines Knochenbruches zu erkennen ist: Die beste Einrichtung der Fraktur, die sorgfältigste Versorgung mit Schraube oder Platte bleibt erfolglos ohne die Fähigkeit des Organismus zur Neubildung von Knochenbälkchen.
Wohl das wichtigste System zur Gesundheitserhaltung ist das Immunsystem. Der Ausfall dieses Systems bei der Immunschwächekrankheit ist auch durch maximale Antibiotikazufuhr nicht wettzumachen. Umgekehrt sind immunologische Überreaktionen wie bei Rheuma, multipler Sklerose, Colitis ulcerose oder Allergien selbst mit hohen Mengen von Cortison nicht heilbar. Gerade zwischen Immunsystem und Bewußtsein existieren wichtige Beziehungen, die bisher noch nicht optimal geordnet und genutzt werden.

Aus all den genannten Gründen halte ich Achtsamkeit und Selbstbewußtsein für notwendige, unverzichtbare Bedingungen von Gesundheit und Heilung. Dazu sind selbstverständlich je nach Situation spezifische Maßnahmen erforderlich, die aber ohne das richtige Bewußtsein ziemlich erfolglos bleiben.
Schon das Wort "Selbstbewußtsein" wird heute oft mißverstanden: als Durchsetzungsvermögen im verbreiteten Konkurrenzkampf, als Ellenbogenmentalität. Diese Mentalität geht nicht nur zu Lasten anderer, sondern letztlich auch des eigenen Selbst.

Selbstbewußtsein hat eigentlich eine viel einfachere, ursprünglichere Bedeutung, nämlich: Selbst-Bewußtsein, also das Bewußtsein vom eigenen Leben, eigenen Sinn (mit allen Hoffnungen und Visionen) und eigenen Körper (mit allen Möglichkeiten und Grenzen). Die - heute - übliche Hektik und Konkurrenz schwächt das Selbst-Bewußtsein und manipuliert es. Nach meiner persönlichen Erfahrung ist das wirkliche Selbstbewußtsein nur meditativ zu entwickeln. Achtsamkeit alleine, also ohne diese Entwicklung, gerät leicht zur Hypochondrie, zur narzißtischer Selbstbespiegelung. Statt dessen sollte als Achtsamkeit eine Geisteshaltung kultiviert werden, die nicht bewertet und nicht urteilt, sondern "nur" vorurteilsfrei beobachtet. Am besten können Sie die richtige Achtsamkeit an Ihrem eigenen Körper einüben, durch atmendes Erfühlen: Beginnen Sie, ruhig auf dem Rücken liegend, Ihren Körper bewußt wahrzunehmen. Lassen Sie dazu Ihre Aufmerksamkeit bewußt Ihren Körper von innen her abtasten, angefangen vom periphersten Punkt des westlichen Menschen, vom linken Fuß. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit dahin, vorurteilsfrei und konzentriert, fühlen Sie Ihren Atem ruhig dahinströmen und tasten Sie, wie ein Scanner, Ihr linkes Bein von den Zehen bis zum Becken von innen her ab. Gehen Sie dann mit Ihrer Wahrnehmung von innen her in Ihr rechtes Bein, wiederum von den Zehenspitzen bis zum Becken, von da durch Unterleib, Bauch und Brustkorb in die Schultern. Nach dem Abtasten beider Hände und Arme, von den Fingerspitzen her, durchwandern Sie Hals, Gesicht, Stirn und Gehirn bis zum Hinterkopf. Lassen Sie dort gedanklich Ihren Atem ein- und ausströmen. Ihr Körper ist jetzt völlig entspannt und atemdurchströmt, ist Atem von Fuß bis Kopf, ohne Zwang.

Diese kleine Übung bringt mehr als Entspannung; sie bildet Ihre Achtsamkeit, Ihr Selbst-Bewußtsein aus. Zu Anfang werden vermutlich Ihre Gedanken abschweifen, werden sich mit vergangenen Dingen, mit Unterlassungen oder zukünftigen Erwartungen beschäftigen wollen. Je mehr Sie gegen diese Gedanken ankämpfen, um so heftiger und sprunghafter werden sie. Kämpfen Sie deshalb nicht gegen Ihre Gedanken. Sprechen Sie sie nur an: sagen Sie bei jedem auftauchenden Gedanken einfach nur: "Denken" - und kehren Sie zu Ihrer wahrnehmenden Atmunq zurück, ohne sie zu zwingen. Damit wird diese kleine Übung schon zur Meditation. Nach einiger Zeit, oft schon sehr schnell, wird diese Übung Ihre Geisteshaltung im Alltag prägen. Sie werden Einstellungen entwickeln, die für Ihre innere Gesundheit und Ihr Selbstbewußtsein entscheidend wichtig sind.

Ohne jeden Zwang erwerben Sie die Fähigkeit
- der Konzentration
- der Wahrnehmung bedenklicher Veränderungen
- zu Vertrauen
-zu Achtsamkeit ohne voreilige Bewertung
- zu Toleranz
- zum Annehmen des Gegebenen
- zum Loslassen des Unnötigen.

Diese Fähigkeiten mögen in unserer Leistungs-, Konkurrenz- und Konsumgesellschaft geringwertig erscheinen. Doch sind dies in Wahrheit die wichtigsten Lebenseigenschaften, unverzichtbar für die Gesundheit von innen her. Sie werden Ihr Leben bereichern.